O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Das Paradies ist oben

DAS HERRENHAUS IM MOOR
(Felicity Whitmore)

Besuch am
12. August 2022
(Premiere am 6. August 2022)

 

Schloss-Spiele Hohenlimburg, Schloss Hohenlimburg, Innenhof, Hagen

Wer in Italien zu einem Ort fährt, der Paraiso, also Paradies, im Namen führt, kann ziemlich sicher sein, dass der sich recht weit oben befindet. So ähnlich ist das auch in Hohenlimburg. Bei der Fahrt durch den Hagener Ortsteil konzentriert man sich am besten auf die Strecke und lässt den Blick nicht allzu weit schweifen. Bis das Schloss Hohenlimburg weit über den Straßen auftaucht. Bestens ausgeschildert, führen Serpentinen zu dem Schmuckstück. Und ehe man sich versieht, schickt einen der Mann vom Parkservice nicht etwa zu einem Wanderparkplatz, von dem es nur wenige Kilometer bis zum Schloss sind, die man zu Fuß zurücklegt, sondern weist den Fahrer sehr praxisorientiert an, das Auto im absoluten Halteverbot abzustellen, wenige Meter von der Kasse am Eingang zum Schloss entfernt. Beim Bezahlsystem setzt man zu sehr darauf, dass die Besucher sich auskennen. Erfahrene Besucher tauschen nämlich ganz selbstverständlich Bargeld gegen Wertmarken, weil Bargeld im Paradies nichts zählt. Wer die rigorosen Kartenkontrollen passiert hat, muss noch einen Anstieg hinter sich bringen, bei dem einem die zuletzt gerauchten Zigaretten, verpasste Sportgelegenheiten und der Wunsch nach verbesserten Ernährungsgewohnheiten einfallen, ehe beim Betreten des Innenhofs alles wieder vergessen ist.

Gleich rechts ist die Bühne aufgebaut, die vom Gebäude aus bespielt werden wird. Der Innenhof platzt aus allen Nähten, weil die Stühle gruppenweise um Tische angeordnet sind. Am oberen Ende vor der Schlossmauer sind Stände aufgebaut, an denen Getränke ausgeschenkt, Cocktails gemischt und Bratwürste, Frikadellen und Steaks gegrillt werden, die in appetitlichen Brötchen angerichtet werden. Nachdem Klagen ob der Fleischlastigkeit laut wurden, gibt es nun auch Grillkäse im Brötchen. Gäste, die auf die Idee kommen, einen der Stände aufzusuchen, werden sehr nett auf die Gepflogenheiten im Schloss aufmerksam gemacht. Hier setzt man sich auf seinen Platz und wartet, bis einer der unzähligen ehrenamtlichen Helfer auftaucht, um seinen Wunsch entgegenzunehmen. So schnell kann einem hier gar nicht das Wasser im Munde zusammenlaufen, bis man seine Bestellung aufgeben kann. Ein Relikt der Corona-Zeit, das sich bewährt hat. Und wem hier in der Pause nicht der Magen knurrt, während die Helfer Bratwurstbrötchen tablettweise durch die Reihen tragen, hat vermutlich ernsthafte gesundheitliche Probleme. Zumal die Qualität der Grillergebnisse das Angebot auf Kirmes oder Weihnachtsmarkt weit hinter sich lassen. Da ist gute Laune vorprogrammiert.

Stefan Schroeder, Karolin Kersting, Tom Rex, Dario Weberg, Simon Jakobi und Lucas Brosch (v.l.n.r.) – Foto © O-Ton

Ja, die Sommerspiele haben es einfacher als beispielsweise die Stadttheater. In Hohenlimburg gibt es nicht den Wunsch nach Gesellschaftsdiskursen in dunkelgrauen Anzügen und nachtschwarzen Abendkleidern. Die Schloss-Spiele haben genau einen Anspruch: Sie wollen beste Unterhaltung bieten. Und die Besucher erscheinen tiefenentspannt in der Kleidung, in der sie sich in ihrer Freizeit wohlfühlen. Künstlerischer Leiter ist Dario Weberg, der abseits der Schloss-Spiele das Theater an der Volme unter seinen künstlerischen Fittichen hat. Die betriebliche Leitung des Theaters hat Ehefrau Indra Janorschke übernommen – wenn es ihre Zeit erlaubt. Denn eigentlich schreibt sie unter dem Namen Felicity Whitmore Romane, die sehr erfolgreich bei dtv erscheinen. In diesem Sommer wächst zusammen, was zusammengehört.

Das Herrenhaus im Moor ist ein 400-seitiger Schmöker, der 2018 erschien. Anstatt nun wie üblich sämtliche Rechte dem Verlag zu überlassen, entschied sich das Ehepaar, die Aufführungsrechte selbst wahrzunehmen. Mit Stefan Schroeder, der als Dramaturg und Autor am Theater an der Volme arbeitet, hatten die beiden einen Mann an ihrer Seite, der sich zutraute, aus dem Roman ein Theaterstück anzufertigen. Das steht heute Abend auf dem Programm.

Wenn ein Bühnenwerk satte drei Stunden inklusive Pause dauert, ist es kaum verwunderlich, wenn sich eine Besucherin in der Pause damit brüstet, das Buch bereits gelesen zu haben und bestätigen kann, dass sie alles wiedererkennt. Mit den Kürzungen ist es also nicht allzu weit her. Dass der Großteil des Publikums trotzdem bis zum Ende durchhält, liegt an der Inszenierung, die Stefan Schroeder und Dario Weberg gemeinsam liebevoll vorgenommen haben, und Schauspielern, die mit ihren Leistungen glänzen. Eine Souffleuse ist weit und breit nicht zu sehen, trotzdem gibt es so gut wie keine Hänger in einem riesigen Textkonvolut, von dem etliche Darsteller mehrere Rollen übernehmen. Die Bühne ist schlicht, aber zweckmäßig gehalten. Ein Tisch für Gespräche, eine Anrichte im Hintergrund, die allerlei Geheimnisse beinhaltet und zwei Stühle, deren Bedeutung sich nicht erschließt. Sie bleiben nämlich unbesetzt. Silke Hank hat die Darsteller so eingekleidet, dass sich die Erklärung zweier unterschiedlicher Zeitebenen eigentlich erübrigt, aber Schroeder wollte auf Nummer sicher gehen. Und so dürfen Dirk Hering und Stefan Sasse ihre Beleuchtung ebenfalls auf die beiden Zeitebenen ausrichten. Noch deutlicher wird es bei der Bühnenmusik, die Martin Brödemann komponiert hat und in Dur für die Gegenwart und in Moll für die Vergangenheit erklingen lässt. Er ist auch für die lautmalerischen Effekte verantwortlich.

Anna-Christina Reske, Stefan Schroeder und Dirk Stasikowski (v.l.n.r.) – Foto © O-Ton

Im Mittelpunkt der Gegenwart steht Laura Milton. Anna-Christina Reske hat die schwierige Aufgabe, als Ehefrau von Frank Milton, der in Deutschland ermordet wird, plötzlich als Köchin in England auf- und in die Vergangenheit einzutauchen. Dario Weberg wirkt in der Rolle des kurz darauf ermordeten Milton und damit in der Aufwärmphase noch ein wenig ungelenk, glänzt aber später als der Arzt Dr. Bloom, der die ungeliebten Frauen reicher Männer wegsperrt, um sie mit seinen Therapiemethoden in die Unzurechnungsfähigkeit – und in den Tod – zu treiben. Als Lady Victoria, die einem Komplott zum Opfer fällt und in der „Klinik“ landet, begeistert Karolin Kersting. Auch Stefan Schroeder übernimmt Rollen. Als Vormund von Victoria und damit als Bösewicht gefällt er ebenso wie in seinem distinguierten Auftritt als Butler. In den letzten Jahren war er überwiegend im komödiantischen Fach besetzt: Umso mehr freut sich Dirk Stasikowski, jetzt als Nicholas Milton den „Retter in der Not“ und in Laura Verliebten spielen zu können. Damit empfiehlt sich der Schauspieler für Rollen auch im ernsteren Fach. Von den zahlreichen, ebenfalls bestens gespielten Nebenrollen seien stellvertretend Annette Hollnack als Schwester Marygold und Ingo Löwen erwähnt, der wie viele andere gleich drei kleinere Rollen übernimmt.

Während die Zeitebenen dieser großen Produktion gut unterscheidbar sind, explodieren die Ereignisse gegen Ende plötzlich, dass einem schwindlig werden kann. Dass das Publikum am Ende aufspringt, um dem Schloss-Spiel-Ensemble mit frenetischem Applaus zu danken, ist wohlverdient. Und neben den Darstellern ist insbesondere auch den vielen Helfern zu danken, weil man sich hier für einen Abend lang wirklich ein bisschen wie im Paradies fühlen darf. Jetzt bleibt dem Ensemble nur zu wünschen, dass es dieses originelle Stück auch noch an anderen Orten aufführen kann.

Michael S. Zerban