O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Im Kokon geplatzter Träume

DREI SCHWESTERN
(Anton Tschechow)

Besuch am
15. April 2023
(Premiere)

 

Theater Hagen

Eine seltene Gelegenheit bietet das Theater Hagen zurzeit mit der Möglichkeit, Anton Tschechows Drama Drei Schwestern als Schauspiel und in einer zu Recht hoch gelobten Opern-Version erleben zu können. Der aufwändigen Vertonung von Peter Eötvös stellt Intendant Francis Hüsers Tschechows Vorlage in einer hoch konzentrierten, filigran ausgearbeiteten und intimen Inszenierung als Kammerspiel für Feinschmecker gegenüber.

So unterschiedlich beide Versionen auch angelegt sind. In einem wesentlichen Punkt treffen sie beide den Nerv des 1901 uraufgeführten Stücks. Sie verzichten auf jeden irreführenden sentimental-nostalgischen Zungenschlag. Was im Sprechtheater ohne orchestrale Einbettung noch pointierter zum Ausdruck gebracht werden kann als in der Oper. Und die Chance nutzen Hüsers und sein vortreffliches Ensemble mit Erfolg.

So differenziert Tschechow die zehn Bewohner und Gäste des russischen, von der Gegenwart abgehängten Provinznests auch charakterisiert. Nahezu alle, vor allem die drei Schwestern, erhoffen sich von der angebrochenen neuen Zeit ein glücklicheres, lebenswertes Leben. Es gelingt ihnen jedoch nicht, die Kraft aufzubringen, aus dem Dickicht einengender Traditionen, Vorschriften und verfestigter Rollenbilder auszubrechen und einen Neuanfang zu starten. Der Umzug nach Moskau als Ziel hoffnungsvoller Erwartungen bleibt Illusion. Mit dem Abrücken einer Garnison, die wenigstens für einige, wenn auch meist nur oberflächliche Abwechslung gesorgt hat, bleiben die drei Schwestern in einem Kokon geplatzter Träume zurück.

Tschechows herausragende Fähigkeit, Tristesse und Langeweile, die das Leben seiner Figuren lähmen, durch scharf geschnittene psychologische Profile und virtuos geführte Dialoge zu spannenden Theaterabenden führen zu können. Dialoge, geprägt von feinem Witz, mehr oder weniger vorgetäuschtem Tiefgang, innerer Verletzlichkeit, aber auch der Unfähigkeit zu wirklicher Kommunikation.

Das alles wird in Hüsers Inszenierung deutlich, der Figuren und Dialoge leicht wie ein Florett führt, viel Detailarbeit in die Charakterisierung und Personenführung investiert, Ausbrüche und ironische Untertöne fein dosiert und den Spielfluss immer wieder anhalten lässt. Die Thematik ist für Hüsers von einer zeitlosen Aktualität, so dass Bühnenbild und Kostüme nicht klar definiert werden. Bühnenbildner Sven-Eric Scheuerling setzt mit einer abstrakten Lamellen-Konstruktion markante optische Akzente. Sie erinnert an die Schwinge eines imaginären Vogels, die auch praktikabel als Raumteiler und Decke genutzt wird. Eine Schwinge, die vergeblich in die Freiheit abzuheben versucht. Mit einem Flügel lässt sich nicht fliegen.

Dass sich die Träume der drei Schwestern auch im vermeintlich paradiesischen Moskau verwirklichen würden, misstraut Hüsers, indem er live auf der Bühne Dmitri Schostakowitschs 8. Streichquartett erklingen lässt, wodurch nicht nur die bedrückte Stimmung des Alltaglebens der Schwestern verstärkt wird. Der damit verbundene Verweis auf Schostakowitschs Probleme mit Stalin und der Sowjet-Diktatur zeigt, dass die Zukunft der Schwestern im „goldenen Moskau“ nicht unbedingt lebenswerter ausfiele als in ihrem verhassten Provinznest.

Zehn von Tschechow fast gleichwertig bedachte Figuren gilt es zu besetzen. Und die Ensemblepflege des Hagener Theaters zahlt sich auch in dieser anspruchsvollen Aufgabe aus. Alle überzeugen durch vorzüglich ausgeführte Rollenprofile. Christina Günther als älteste, eher pragmatische Schwester Olga, Caroline Betz als verbitterte Mascha und Vanessa Stoll als jüngstes und hoffnungsvollstes Geschwister Irina. Deren kunstsinniger, unglücklich verheirateter Bruder Andrej wird von Friedemann Eckert treffsicher dargestellt. Nicht minder dessen resolut-kokette Gattin Natascha von Lucia Schulz. Mit differenzierten Leistungen überzeugen auf gleicher Höhe Klaus Nicola Holderbaum als Nataschas Gatte Kulygin, Matthias Knaab als verwöhnter, aber unglücklicher Baron Tusenbach, Rudi Grieser als gereifter Lebemann Soljony, Urban Luig als homosexuell irritierter Brigadegeneral Werschinin und Ralf Grobel als abgestürzter, völlig desillusionierter Arzt Tschebutykin.

Viel Beifall für ein hochwertiges Tschechow-Erlebnis.

Pedro Obiera