O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Raphael Faux

Aktuelle Aufführungen

Beethoven und Wien als Nachklang

GSTAAD MENUHIN FESTIVAL & ACADEMY
(Diverse Komponisten)

Besuch vom
16. bis zum 18. Juli 2022
(Premiere)

 

Diverse Spielorte

Wien – Beethoven delayed“: Verspätet, aber nicht zu spät holt das Gstaad Menuhin Festival in den Saaner Alpen den runden Geburtstag Ludwig van Beethovens nach. In über 60 Konzerten nimmt der Bonner Meister bis zum 18. August eine zentrale Stellung im größten Musikfest der Schweiz ein. Damit trifft man punktgenau den Nerv des Festival-Gründers Yehudi Menuhin, der in Beethoven die Verkörperung eines anderen, menschlichen Deutschlands gesehen hat als das Deutschland, das die halbe Welt in den Abgrund riss. Beethoven gehörte für ihn auch zu den deutschen Symbolen, die ihm, dem jüdischen Künstler, die Kraft und den Mut gegeben haben, als erster Musiker nach dem Krieg wieder in Deutschland aufzutreten und zusammen mit dem Verleger, Stahlindustriellen und Diplomaten Günter Henle Annäherungen zwischen Deutschland und Israel in Bewegung zu setzen.

Gäbe es einen würdigeren Auftakt zur neuesten Auflage des 1956 gegründeten Festivals als Beethovens Missa Solemnis, der neben der von Beethoven hoch verehrten Messe in h-Moll Johann Sebastian Bachs größten und tiefgründigsten Messkomposition der Musikgeschichte? Noch dazu in den kundigen Händen von René Jacobs, des RIAS-Kammerchors Berlin und des Freiburger Barockorchesters? Dass es dazu nicht gekommen ist, zeigt, dass der Corona-Virus zwar an Schrecken verloren hat, aber den Alltag immer noch beeinflusst. Die steigenden Infektionszahlen machten auch vor dem Chor nicht Halt, so dass Jacobs auf Werke auswich, die eine kleinere Chorbesetzung ohne Nachteile verkraften können.

Da Wien als Hauptmotto die Programmgestaltung der folgenden Wochen bestimmt, ließen sich zwei große Messkompositionen von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart nahtlos integrieren. Mit Haydns Missa in tempore belli – Messe in Zeiten des Krieges – bekannt geworden unter dem banalen Titel Paukenmesse, und Mozarts Requiem entschied sich René Jacobs für zwei in ihrer Art grandiose Werke, die der gedrückten Stimmung unserer vom Ukraine-Krieg geprägten Tage entgegenkommen, aber zugleich Zeichen der Hoffnung setzen.

Davon zeugt in beeindruckender Weise Haydns große Messe, die 1796 inmitten der napoleonischen Besetzung Wiens entstanden ist und als eindringlicher Friedens-Appell zu verstehen ist. Es sind verhaltene, dunkle Töne, die Haydn anstimmt und zu gewaltigen Höhepunkten führt. Gipfelnd in dem unruhigen, von Paukenschlägen durchrüttelten Agnus Dei, dem fast trotzig eine in Dur aufgehellte Friedensbitte folgt. Jacobs erfasst die zerrissene Stimmung des Werks mit der von ihm gewohnten Treffsicherheit, gibt dem Werk ernsthafte Würde, ohne in grübelnde Schwermut zu verfallen. Der Klang besticht durch voluminöse Großräumigkeit, ohne an Transparenz und Schlankheit zu verlieren. Dass sowohl der Chor als auch das Orchester stilistisch und spieltechnisch bestens vorbereitet sind, versteht sich von selbst. Und auch bei der Auswahl des Solistenquartetts zeigt Jacobs ein glückliches Händchen: Sopran Brigitte Christensen, Mezzosopran Sophie Harmsen, Tenor Maximilian Schmitt und Bass Johannes Weisser bilden ein gleichwertiges, homogen aufeinander eingestimmtes Ensemble.

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Auch wenn man es als Sakrileg missverstehen kann: In seiner perfekten Geschlossenheit ist Haydns Messe Mozarts Requiem überlegen, bei dem, im Grunde wenig erstaunlich, ein Gefälle zwischen den originalen Teilen und den diversen Rekonstruktionsversuchen des Rests nicht zu überhören ist. So geschickt und verdienstvoll Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr das Requiem mit Unterstützung der Witwe Mozarts auch vervollständigte: Die raffinierten Wendungen und Überraschungen, mit denen Mozart sein kompositorisches Material stets überhöhte, fehlt doch allen Ergänzungsversuchen Süßmayrs und seiner Nachfolger. Mitunter sind es kleine Varianten in der Instrumentation Mozarts, die für besondere Hörerlebnisse sorgen. Insofern ist es eine gute Idee oder zumindest eine gute Absicht von Jacobs, auf eine Neuedition des französischen Komponisten Pierre-Henri Dutron zurückzugreifen, der sich intensiv mit Mozarts Manuskripten beschäftigte und einige Änderungen an der Instrumentierung Süßmayrs vornahm. Was vor allem einige klangliche Eindunklungen und Varianten betrifft, die allerdings nur in direktem Vergleich direkt wahrnehmbar werden dürften. Und dass die laut Jacobs eigener Aussage „ab dem Sanctus uninteressanten“ Teile durch Dutron an Substanz gewonnen haben könnten, sei dem Glauben jedes Hörers überlassen.

In fast gleicher Besetzung hat Jacobs diese Requiem-Version bereits auf CD eingespielt und die Wirkung seiner hochprofessionellen Einstudierung bleibt trotz der Einwände nach wie überwältigend. Wesentlichen Anteil am Gesamteindruck ist auch dem Aufführungsort zu verdanken, der schlichten, etwa 700 Plätze umfassenden Kirche in Saanen, dem kleinen, beschaulichen Nachbarort Gstaads. Die bereits 1228 urkundlich bezeugte Dorfkirche, eine spätgotische, 1604 reformierte Kapelle mit wunderschönen Holzmalereien und einem holzverkleideten Innenraum, der eine fantastische Akustik bietet, ist die Keimzelle des Festivals, in der Yehudi Menuhin zusammen mit Benjamin Britten, Peter Pears und Maurice Gendron vor fast 70 Jahren das Festival, damals noch in ganz kleinem Rahmen, zum Leben erweckte.

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Der ehrwürdige Kirchenraum passte auch stilsicher zu einem der interessantesten Programme, zu dem sich die Lautenistin Christina Pluhar mit acht Instrumentalisten ihres Ensembles L‘Arpeggiata und den prominenten Gesangssolisten Philippe Jaroussky und Céline Scheen zusammengefunden haben. Alle verbindet eine lange Zusammenarbeit. Unter dem Titel Himmelsmusik beschreiten sie jedoch ungewohnte Wege. Sakrale Gesänge evangelischer Komponisten aus dem deutschen Ostseeraum des Frühbarocks vor der Zeit Bachs und Händels sowie einige italienische Beigaben motivieren alle Mitwirkenden zu einem ungewöhnlich introvertierten, expressiven Vortrag von kostbaren Raritäten meist wenig bis gar nicht bekannter Komponisten weitab der barocken Gefilde, die man mit Christina Pluhar und Philippe Jaroussky verbindet. Die durchweg tief empfundenen Gesänge und Instrumentalintermezzi geben Christina Pluhar und ihrem Ensemble nur wenig Gelegenheit, die Musik so locker swingen zu lassen, wie man es von ihnen erwarten könnte. Und Jaroussky wie auch Scheen müssen auf koloraturenreiche Bravourstücke der barocken Oper verzichten. Ihre Stimmen, der makellos geführte Countertenor Jarousskys und der nicht minder flexibel geführte Sopran der Sängerin vermischen sich in den Duetten erfreulich homogen. Und in der Begleitung hält sich Christina Pluhar dezent zurück und gibt ihren Musikern dafür in den Instrumentalstücken Freiräume für einige virtuose Einlagen.

Die Auswahl umfasst Gesänge zu allen Eckpfeilern der Lebensgeschichte Jesu von der Geburt bis zur Passion. Dabei stellt Christina Pluhar eine stilistisch denkbar vielfältige Sammlung zusammen. Die tieftraurige, affektgeladene Klage Ach, dass ich Wassers g‘nug hätte des Bach-Vorfahren Johann Christoph Bach, das ungewöhnlich übermütige Laudate Dominum Claudio Monteverdis oder Johann Theiles sanftes Wiegenlied zur Geburt Christi umspannen ein weites Feld sakraler Musik, das bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde.

Der Abend ist als denkwürdige Ergänzung des Hauptprogramms zu würdigen, auch wenn kein direkter Bezug zum Motto des Festivals festzustellen ist. Allerdings knüpft er in seiner spirituellen Intensität an die Anfänge der Festival-Geschichte an, als sich Menuhin noch nicht träumen ließ, dass sich aus dem lockeren Treffen befreundeter Musiker das größte Musikfest der Schweiz entwickeln sollte, das jährlich an die 25.000 Besucher anlockt und längst nicht mehr in der Saaner Dorfkirche zu bewältigen ist. Ein Publikumsmagnet wie die konzertante Aufführung von Beethovens Oper Fidelio mit Anja Kampe und Jonas Kaufmann oder Mozarts Zauberflöte unter der Leitung von Christophe Rousset benötigen schon das große Festival-Zelt in Gstaad.

Der Wiener Schwerpunkt schließt nicht nur die klassischen Komponisten der österreichischen Metropole ein, sondern auch viele Gratwanderungen zwischen Genres aller Art von experimentierfreudiger Blasmusik bis zu fein gestrickten Kaffeehausklängen. Und Menuhins unermüdlicher Einsatz für die Förderung junger Musiker lebt eindringlich in zahlreichen Angeboten der Festival Academy fort. Schließlich ging es Menuhin nicht nur darum, gute Musiker heranzuziehen, sondern vor allem „gute Menschen“.

Pedro Obiera