O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Axel J. Scherer

Aktuelle Aufführungen

Wir spielen wieder

DIE HAUPTSTADT
(Robert Menasse)

Besuch am
12. Juli 2020
(Premiere am 10. Juli 2020)

 

Deutsches Theater in Göttingen

Ein voluminöses Schwein in goldenen Ballettschuhen, das gefährlich rot gefärbte C-Virus, das in mehreren Exemplaren durch die Szenen geistert, ein kaltes, jenseitiges Bühnenbild mit surrealem Einschlag – ist das die europäische Wirklichkeit, der wir heute begegnen? Ein Sprecher: „Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Schweineshow …“

Man möchte wünschen, dass es in Brüssel so ähnlich läuft wie bei der Inszenierung der Göttingen-Aufführung Die Hauptstadt, die Regisseur Niklas Ritter nach dem Roman von Robert Menasse in einer eigenen Fassung gemeinsam mit dem Göttinger Ensemble in Szene gesetzt hat – eine gelungene Aufführung trotz zahlreicher Corona-bedingter Einschränkungen, die originell und mit Pfiff bühnengerecht umgesetzt werden: Die Abstandsregeln wandeln sich in eine geometrisch abstrakt  geführte Personenchoreografie, dem Begegnungsverbot wird durch Mehrfach-Rollen-Besetzung Rechnung getragen, nur das Schwein verendet durch einen Schuss aus dem Hinterhalt. Und die EU-Bürokratie hört man aus jedem Winkel wiehern. Das flexible Bühnenbild mit beweglichen großen Metallspiegeln verzerrt nicht nur die Menschen und Perspektiven, es wird zum Spiegel, den das Theatergeschehen dem Publikum vorhält. Die zahlreichen Personen des Romans werden in knapp zehn Rollen verdichtet, wobei die Schauspieler bis zu vier Personen darstellen. Keine einfache Aufgabe, die auch das Verständnis des Stücks nicht immer erleichtert.

Foto © Axel J. Scherer

Der erste Eindruck des Stückes täuscht: Wenn Felicitas Madl als voluminöses Schwein, aber mit goldenen Ballettschuhen das Stück urkomisch eröffnet, stellen sich viele Zuschauer auf einem komödiantischen Abend ein. Falsch gedacht. Zwar ist der Bogen vom Schwein bis zum Schwerpunkt    Geschäftswelt, Wirtschaft, und Euro der EU-Kommission in Brüssel weit gespannt, auch manche Szene wirkt urkomisch, aber der Plot des Stückes ist ein politischer – daran lässt Alois Erhart, emeritierter Professor, keinen Zweifel. „Okay.  Also, was ich sagen will: Konkurrierende Nationalstaaten sind keine Union … Europapolitik und Staatspolitik. Die Sozialunion, … die aus Europäern gleichberechtigte Bürger macht, dafür sind wir hier. Und das war einmal die Idee“, lautet sein Resümee.

Der Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, Fenia Xenopoulou, stilgerecht und eher kühl dargestellt von Judith Strößenreuter, wird die schwierige Aufgabe anvertraut, das Image der Kommission und des Geschäftsbereiches Kultur – ausgerechnet Kultur! – aufzumöbeln. Dass die Kreativbürokraten um Xenopoulou ausgerechnet auf die Idee kommen, eine Erneuerung der EU über und mit Hilfe der Judenverfolgung und Ausschwitz zu betreiben, kommt ein wenig überraschend, auch etwas an den Haaren herbeigezogen. Gleichwohl ergeben sich aus dieser im fiktiven Brüssel heftig diskutierten Idee zahlreiche seltsame bis groteske Einfälle:

Der erste Vorschlag des Alois Erhart aus Österreich, findet noch schnell Zustimmung, denn „wir sind auf der Suche nach etwas Neuem …, nach einer neuen, europäischen Demokratie …“, nach etwas mit Symbolkraft: „Wir brauchen eine neue Hauptstadt.“ Und er fährt fort: „Die Errichtung einer europäischen Hauptstadt in Auschwitz.“ Als dann auch noch mit David de Vriend, 90 Jahre alt, ein ehemaliger jüdischer Widerstandskämpfer und Auschwitzüberlebender gefunden wird, der bereit ist, an dem Projekt „neue Hauptstadt“ mitzuwirken und als authentischer Zeuge aufzutreten, scheint das Projekt auf gutem Wege. Hidekuti, ein Kommissionsmitarbeiter fragt ungläubig: „Auschwitz als Sinnbild zur Überwindung der Nationalstaaten als zentrales Anliegen der EU?“.  Warum nicht, ein „moralisches Baldachin für eine Wirtschaftsgemeinschaft“.

Nachrichten vom Videowalk – Foto © O-Ton

Die Projektgruppe sieht sich schon auf Erfolgskurs, wenn nicht, ja, wenn nicht die Bedenkenträger des Brüsseler Apparates das anders sähen. „Ich weiß, dass Sie nichts so sehr langweilt, wie Geschichten aus dem Nationalsozialismus und Erinnerungen an den Faschismus“, meint Erhart, den Zuschauern zugewandt. Die Geplänkel verlieren sich im Brüsseler Sumpf. Dass bei diesen Seitenblicken auch ein gewisser, in letzter Zeit unrühmlich bekannt gewordener Fleischproduzent aus Deutschland in den Blick kommt, ist fast zwangsläufig. Auch die übrigen Personen des Stückes, knapp zwanzig an der Zahl, sind ein buntes Gemisch des Brüsseler Straßenbildes. Die Schauspieler zeigen viel Spiellust und karikieren – scheinbar mit großem Ernst – die unterschiedlichen Charaktere und Spielzüge bis ins Skurrile. Das Stück ist ein Wortstück, bei dem das Wort, die Worte, die vielen überflüssigen und vergeblichen Worte in und gegenüber Brüssel im Mittelpunkt stehen. Das erfordert von den Darstellern eine große Sprechdisziplin, die nicht alle zufriedenstellend beherrschen. Und so schwankt der Eindruck der Inszenierung zwischen aktuellem Zeitbild, Persiflage, Kabarett und politischem Programm – zur Freude der Zuschauer. Die kleine Band mit Musik von Michael Frei steuert eine schlagzeugbetonte Begleitmusik bei, die in ihren Verzerrungen den surrealen Charakter des Stückes unterstreicht und die Kapazität der Verstärker einige Male bis zum Anschlag ausreizt.

Die sehr aufmerksame Corona-Virus-Organisation hat die knapp 100 Personen des Publikums mit großem Abstand auf Parkett und zwei Ränge verteilt, was auch dramaturgisch den Abstand zwischen dem Bühnengeschehen und den Besuchern vergrößert. Unvermeidlich. Alexander Wolfs Bühne betont die sich verwischenden Merkmale zwischen Realität und Fantastik. Aggressiv wirkende Farbflächen oder verzerrende Metallspiegel unterstreichen das Bühnengeschehen oder halten den Zuschauern einen Spiegel vor – Nationalisten, Europäer, Antisemiten?

So stellt sich die „Suche nach etwas Neuem …, nach einer neuen, europäischen Demokratie …“ als sehr komplex dar, die – absolut aktuell – zwischen Tradition, Nationalismen und Visionen changiert, in der es zwar verschiedene Perspektiven gibt, aber keine klare Richtung. Das Publikum fühlt sich bestens unterhalten und wiedererkannt und bedankt sich – trotz kleiner Anzahl – anhaltend für die Inszenierung.

Auch das Deutsche Theater Göttingen ist um die Schließung des gesamten Probenbetriebes nicht herumgekommen. Als eine Alternative hat es das diesjährige Festival DT – Am Puls in Form von Videowalks entwickelt, die vor allem den Freunden des Theaters an Videostationen angeboten werden und Einblicke in die Theaterarbeit gewähren. Eine Idee, die offenbar großen Zuspruch findet, wie die zahlreichen Dankesbotschaften auf einer Anschlagtafel am Eingang belegen – eine schöne Geste unter Freunden der Kultur.

Horst Dichanz