O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Axel J. Scherer

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Woher wir kommen – wohin wir gehen

ALLES LÜGE UND IMMER WIEDER WÄCHST DAS GRAS
(Roman Majewski)

Gesehen am
7. November 2020
(Livestream)

 

Deutsches Theater in Göttingen

Dreißig Jahre Wiedervereinigung und kein Festakt, kein Sektempfang, keine Reden – Corona-Tribut, undenkbar für das Deutsche Theater in Göttingen. Stattdessen vielleicht ein historisches Stück, tiefsinnige Reflexionen, Gedanken über die Freiheit, die Zeit, das Leben schlechthin? Oder doch lieber etwas Lockeres, Kabarett, ein neues Musical, ein Abend mit zeitgenössischer Musik? Die Göttinger entscheiden sich für einen Liederabend, gesendet als Livestream – locker, in kleinem Format – und doch ernst gemeint.

Gerhard Gundermann hat es mit seinem Film Gundermann vorgemacht. Seine Songs sind Teil des Abends und bringen Zeitgeschichtliches authentisch auf die Bühne. Hier bin ich geboren, ein Leben zwischen Musiker und Baggerfahrer, zwischen einer kleinbürgerlichen Familie und Liedern voller Träume, zwischen realem Sozialismus und Träumen von einem fernen Land. Im Halbdunkel der Bühne versucht diese „völlig normale“ Familie, in dem tristen Alltag der ehemaligen DDR schlecht und recht klar zu kommen – mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Zwischen der nur knapp angedeuteten Inneneinrichtung, bei der zwei Plaste-Sessel im „modischen“ Beige-Braun nicht fehlen dürfen, schlurft Oma im verschossen-grünen Kittel durch die dunkle Küche. Thommy, der ältere Bruder, führt den unsäglichen rot-grau-gestreiften Bademantel spazieren. Er ist voll mit seiner Gitarre und seinem Chaos beschäftigt, kriegt aber nichts gebacken, recht authentisch gespielt von dem leicht vertrottelten Volker Muthmann. Er kämpft gegen die Ordnung der kleinbürgerlichen Umwelt, mit der er wenig anzufangen weiß. Sandro, der jüngere Bruder, macht es allen vor, zeigt, wie es geht, er ist fein heraus. Ihm sieht man den Erfolg förmlich an. Neben der Oma-Rolle präsentiert sich Gaia Vogel als Blondine Paula, die selbstbewusst und flott ihre Songs vorträgt. Moritz Schulze rahmt den Abend mit seinen Songs ein. Die Bühne bleibt meist in einem tristen Halbdunkel, Dekoration und Geräuschkulisse bleiben verdeckt.

Foto © Axel J. Scherer

Über dem Ganzen liegt eine dunkel-melancholische Stimmung, einige hellere Akzente setzen die Songs. Mit dezenter Band-Begleitung agieren Rolf Denecke, Manfred von der Emde, Michael Frei und Hans Kaul wie Tilmann Ritter optisch wie akustisch im Hintergrund.  Ein wenig Leben, etwas Bewegung bringt eine Lieferung von mehreren großen Paketen aus dem Westen, mit denen die Westler den grauen DDR-Alltag ein wenig aufhellen, bereichern wollen.  Und es fehlt noch etwas. Die rockigen Lieder, mit Schwung präsentiert, verhallen ohne Echo, ohne Beifall aus dem Publikum. Fast sieht sich der einsame Zuschauer vor dem TV-Set veranlasst, aus seinem Sessel aufzustehen und zu applaudieren. Reaktionen aus dem Publikum – Fehlanzeige, Kontakt zum Publikum – stumm geschaltet, geflüsterte Kommunikation unter den Zuschauern – keine Reaktion. Das irritiert mächtig und macht dem Zuschauer seine Isolation körperlich fühlbar. Wie viele andere Veranstalter muss auch das Deutsche Theater Göttingen aus der Corona-Not eine Tugend machen und hat sich für einen Livestream entschieden. Der Zuspruch schwankt während der Übertragung zwischen 230 und 540 Besuchern nach dem eingeblendeten Zählwerk.

Ein Stück Geschichte statt mit realem Bühnenspiel mittels Digitaltechnik an ein Publikum zu bringen, ist eine Möglichkeit, die in Göttingen weitgehend gelungen ist. Schauspieler und Band haben den Zeitgeist gut getroffen, doch die optischen und akustischen Akzente bleiben hinter den Möglichkeiten zurück. Mehrfach schafft es der Text nicht bis zum  imaginären Zuschauer, die Übertragungstechnik zeigt noch Übungsbedarf. Zu Hause im Sessel erfährt der Zuschauer, dass der digitalen Präsentation eine Dimension fehlt, er bleibt isoliert.

Horst Dichanz