O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Rolf K. Wegst

Aktuelle Aufführungen

Auf Sand gebaut

ALP ARSLAN
(Richard van Schoor)

Besuch am
10. Mai 2019
(Premiere am 4. Mai 2019)

 

Stadttheater Gießen

Ein menschliches Wesen irgendwo in der Wüste. Es schreit seine Qualen heraus: Schrecklicher Schmerz! Nur der Kopf ragt unter der erbarmungslosen Sonne aus dem hellen Sand heraus, in den es nach einer brutalen Kastration eingegraben worden ist. Das Wesen ist ein Knabe, sein Name Loulou. Der Countertenor Denis Lakey, der dem Jüngling Stimme und Würde gibt, erinnert sich in Form einer Retrospektive an die glühenden Eisen, die seine Hoden versengt haben. In Richard van Schoors Auftragswerk für das Stadttheater Gießen nimmt am Ende der Epilog das Motiv des Prologs auf. Loulou, aufgestiegen zum Berater, Beschützer und Freund des Sultans mit dem Beinamen Alp Arslan, etwa: tapferer Löwe, ist unweit der Stadtmauern von Aleppo von seinen Widersachern enthauptet worden. Nun artikuliert das Haupt des Eunuchen, in der Szene noch mit dem Körper verbunden, halb verwundert, halb entsetzt, erneut seine Pein: Schrecklicher Schmerz!

Als Ringparabel hat der niederländische Librettist und Orientexperte Willem Bruls seine in Studien und etlichen Reisen nach Syrien vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs gewonnenen Eindrücke und Ideen angelegt, die er als „Requiem für eine Stadt“ bilanziert. In der pulsierenden Vertonung des aus Kapstadt stammenden Komponisten sorgt dieser Abschied von einem zentralen Schauplatz orientalischer Kultur für ein forderndes, über weite Strecken anstrengendes, indes durchaus lohnendes Opernerlebnis. Lohnend in seiner kompakten Intensität, auch wenn der 100-Minuten-Neuling ohne Pause nichts weniger als Schrecken verbreitet und im Publikum Verstörung hinterlässt.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Die Gewalt, dieser Archetyp  menschlichen Seins, existiert als zeitloses wie stets zeitnahes Paradigma allgegenwärtig. Sie zerstört zur Zeit der Kreuzzüge im frühen zwölften Jahrhundert die Voraussetzungen friedlicher Koexistenz von rivalisierenden Gemeinschaften wie Religionen, von Stämmen, Völkern, Einzelnen wie Sultan und Eunuch. Alp Arslan wendet sich rigoros und konsequent der destruktiven DNA des Menschen zu, sei es im Aleppo von 1112, sei es im Aleppo von heute nach der weitgehenden Zerstörung im Krieg von Aufständischen gegen die Herrscherkaste und deren Feldzug gegen das eigene Volk. Unsere Zivilisation, seit der Aufklärung auf individueller Freiheit, Menschenrechten und Humanität gründend, ist auf Sand gebaut. Eine Erkenntnis wahrlich nicht neu, aber neu als Transmitter in der vielen als verstaubt geltenden Kunst der Oper zwischen Vergangenheit und Gegenwart zur bitteren Geltung gebracht.

Die Handlung von teilweise Brechtscher Dramaturgie versammelt im ersten Bild die Familie Ridwans, des Sultans von Aleppo, der eindrucksvoll von Tuncay Kurtoğlu dargestellt wird, an dessen Totenbett. Während vor den Toren der Stadt Araber, Christen, Kurden und Türken um die Vorherrschaft kämpfen, kommt mit Alp Arslan, dem 16-jährigen Sohn, ein völlig überforderter, haltloser, junger Mann an die Macht, der seine Urängste durch das Mittel aller Despoten kompensiert: Gewalt. Unfähig zu konstruktiven menschlichen Beziehungen, von Mutter und Großmutter, den Frauen der Familie, entfremdet, findet er Zuflucht in der Verbindung zu der zwielichtigen Figur des Eunuchen Loulou, dem früheren Vertrauten Ridwans. Aus dieser Konstellation, nicht zuletzt aus der homoerotischen Beziehung zwischen den beiden Männern entwickelt sich ein Drama, das von Patricia Highsmith stammen könnte. Im Kern zeichnet Bruls´ Libretto auf dem Hintergrund des generellen clashes of culture den individuellen Machtkampf Alps und Loulous nach, der wenig auslässt. Weder die weidlich ausgespielte Vergewaltigung Loulous durch den jungen entmenschlichten Sultan. Ich will, dass es schmerzt, schleudert Alp seinem einstigen Förderer entgegen. Noch die Ermordung des Sultans durch den Eunuchen mit dem Doch. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt hat sich einmal mehr ereignet. Man tötet, um zu überleben, heißt es bezeichnend an einer Stelle.

Primärer Erfolgsfaktor der von Intendantin Cathérine Miville in Szene gesetzten Produktion ist die Gießener Drehbühne. Marc Jungreithmeier, zuständig für Bühne und Video, nutzt sie auf äußerst intelligente Art für sein Konzept, bei eher geringem Aufwand imponierende Bilderwelten zu erschaffen. Während zu Beginn der ersten vom Cello angeführten, schartigen Klangkaskaden aus dem Orchestergraben auf einem Vorhang das traditionelle, unzerstörte Aleppo mit seinen Sandsteingebäuden gezeigt wird, entfaltet sich danach Bild für Bild die Ikonographie des Orients als Mythos. Weit und abweisend die Wüste, typisch die Altstadt mit der bekannten Zitadelle, in deren Untergeschoss sich der Machtkampf zwischen Alp und Loulou entscheidet, eine syrisch-orthodoxe Kirche im Ausschnitt, schließlich die zerstörte Stadt, die auf die Trümmerlandschaft nach dem Bürgerkrieg von heute weist. Monika Gora hat dazu Kostüme ersonnen, deren Design und Stoffe sich diesem Szenario bestens anpassen. Die Regie Mivilles bewegt sich im Korridor vertrauter Standards, ohne der spezifischen Musiksprache adäquate Ausdrucksformen beizugesellen. Die Figuren agieren entweder plakativ oder in einem Format, dessen Enträtselung – wie im Epilog – den Besuchern überlassen wird.

Nun tritt das Ganze ohnehin unter der Maxime an, die Oper nähere sich den zeitlosen Mechanismen der Gewalt „über Klang“ an. Fast noch eine Untertreibung. Van Schoors Partitur setzt mit ihrer Vernetzung von westlichen Standards und Elementen orientalischer oder syrischer Ausdrucksformen diesen selbst gewählten Anspruch mehr als um. Die Musik- und Klangsprache entzieht sich dem Versuch einer einheitlichen Begriffsfindung. Dazu ist das fein gesponnene Geflecht aus Orchestersequenzen, elektronischen Klängen, Anleihen an die Vierteltonmusik, meist deklamierenden Sängerpassagen und den teils traditionalistischen Einsätzen von Chor und Extrachor des Stadttheaters – in der Einstudierung von Jan Hoffmann – viel zu komplex. Nicht zu vergessen das permanente Bemühen von Schoors um lebendiges und stimmiges Lokalkolorit. Geleistet wird das von vier syrischen Sängern  sowie einem syrischen Solosänger, dem Cellisten Mathys Mayr und Evgeni Ganev an Tasteninstrumenten, die außerhalb der eigentlichen Partitur existieren und ihre Musikkultur praktisch mit dem Instrumentenkoffer hergebracht haben. So ist dann auch die Versicherung glaubhaft, die eine oder andere Melodie stamme direkt aus Aleppo. Bestens zusammengehalten wird dieser west-östliche Musikdivan von Martin Spahr, Kapellmeister des Philharmonischen Orchesters Gießen.

Für seine erste abendfüllende Oper nach diversen anderen Auftragsarbeiten für das Gießener Haus verlangt van Schoor Sängerinnen und Sänger, die in der Lage sind, seine extremen Intervallklettereien mit disruptiven Sprüngen nach oben und unten zu meistern. Denis Lakey, dem Countertenor als Loulou, gelingt das mit seiner drei Oktaven umfassenden geschmeidigen Stimme grandios. Ihm steht der junge Tenor Daniel Arnaldos in der Titelrolle kaum nach. Seine geschmeidige, an Mozart- und Rossini-Rollen geschulte vokale Klasse weist einen aussichtsreichen Weg in die Zukunft. In den weiteren Rollen überzeugen Rena Kleinfeld als Großmutter, Marie Seidler als Mutter und Tomi Wendt im Part des Emirs von Damaskus. Den tiefsten Eindruck dabei hinterlässt die Altistin Rena Kleinfeld mit ihrem Requiem auf Aleppo hoch auf der Zitadelle.

Politisch lässt sich dem Bühnenneuling gewiss aus verschiedenen Richtungen begegnen, nicht nur aus naiv affirmativen. Das Publikum, das allen Beteiligten mit wohlwollendem, anhaltendem Beifall dankt, nimmt, wie im Hinausströmen zu vernehmen ist, die Intention des Gespanns von Schoor und Bruls lebhaft auf. Es diskutiert. Allein das dürfte schon ein Gewinn sein.

Ralf Siepmann