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Des Todes ewiger Atem

PELLÉAS ET MÉLISANDE
(Claude Debussy)

Gesehen am
18. Januar 2021
(Premiere am 25. September 2020/Livestream)

 

Grand Théâtre de Genève

Claude Debussys große Oper Pelléas et Mélisande war schon immer Gegenstand von kontroversen Inszenierungen und Deutungen. Bei der Neuinszenierung dieses als Hauptwerk des Symbolismus geltenden „lyrischen Dramas“ am Grand Théâtre de Genève handelt es sich um die Übernahme einer Produktion, die 2018 an der Flämischen Oper ihre Premiere erlebte. Mit einem sehr illustren Produktionsteam gelingt eine zeitlose Inszenierung, die mehr einer Kunstinstallation ähnelt als einer bodenständigen Bühnenproduktion. Die Inszenierung und die Choreografie der omnipräsenten Tänzer wurde von Damien Jalet und Sidi Larbi Cherkaoui kreiert, die mit großem Ausdruck und einer atemberaubenden Körpersprache die Musik quasi in Bilder transformiert. Mit der emblematischen Performance-Künstlerin Marina Abramović, die für das Bühnenbild der Produktion eine kristalline Szenografie geschaffen hat, und den spektakulären Videos des Filmregisseurs Marco Brambilla wird aus den einzelnen Komponenten ein gewaltiges, homogenes Kunstbild, das der teilweise irisierenden Musik Debussys kongenial entspricht. Die Haute-Couture-Designerin Iris van Herpen hat dazu teils futuristische, teils avantgardistische Kostüme entworfen, die den Darstellern ein extravagantes, dem Setting gut angepasstes Erscheinungsbild verleihen.

Claude Debussy schuf mit Pelléas et Mélisande ein zeitloses Werk, das in der Opernliteratur einmalig ist. Die Handlung spielt im imaginären Königreich Allemonde, wo sich die Charaktere wie im Nebel verloren, einander begegnen, und in einem nicht enden wollenden Traum das erleben, was die hypnotische Musik wie ein verschwommenes Spiegelbild reflektiert. Debussy bezeichnete sein Werk „als eine Oper nach Wagner, jedoch nicht so wie Wagner“.

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Tatsächlich scheint Debussy stark von Wagner beeinflusst. Immer wieder meint man Anklänge an Tristan, mehr noch an Parsifal zu erkennen. Pelléas und Mélisande ist eine aktweise durchkomponierte Oper. Debussy vertonte den von ihm selbst eingerichteten Text zunächst ohne Orchesterzwischenspiele zwischen den einzelnen Szenen, fügte die aber auf Wunsch des Intendanten der Pariser Oper aus praktischen Erwägungen, nämlich der Überbrückung der notwendigen Umbaupausen, nach und nach hinzu und erweiterte sie im Zuge der Uraufführungsserie. Bis kurz vor seinem Tod unterzog Debussy die Partitur immer wieder einer Revision. Die „Fassung letzter Hand“ unterscheidet sich dadurch in der Instrumentation erheblich von der Fassung der Uraufführung. Debussy verzichtete auf Arien und größere Soloszenen, was der Vertonung des Textes eine realistische Prägung verleiht. Der Komponist beschrieb die Gestaltung der Gesangsrollen folgendermaßen: „Die Gestalter dieses Dramas wollen natürlich singen – und nicht in einer willkürlichen Ausdrucksweise, die aus überlebten Traditionen stammt. Ich wollte, dass die Handlung nie stillsteht, sondern ununterbrochen weitergeht.“ Debussy hält sich eng an das symbolistische Drama von Maurice Maeterlinck, das er in eine sinnliche und traumähnliche Atmosphäre versetzt, in der der Gesang dem natürlichen Rhythmus des gesprochenen Wortes folgt, während die Orchester-Zwischenspiele die geheimnisvolle Schönheit des imaginären Königreichs wie durch einen Schleier gesehen musikalisch zum Ausdruck bringen. Fünf Akte mit insgesamt 15 Bildern voller Geheimnisse und verhaltener Leidenschaften, die Debussy einfühlsam mit den Klangfarben seiner Musik wie auf glitzernden Wogen dahintreiben lässt, wie des Todes ewiger Atem.

Die Handlung spielt im imaginären Königreich Allemonde, das vom alten König Arkel regiert wird. Golaud findet Mélisande, eine märchenhafte Gestalt, in einem finsteren Wald auf. Als er sie anspricht, zuckt sie zusammen und singt ihre ersten Worte fast ohne Stimme: „Rührt mich nicht an!“ Ihre Zerbrechlichkeit ist unüberhörbar. Herkunft und Identität bleiben ein Rätsel. Ein anderer intimer Moment verändert die Zukunft. Nur ein einziger Augenkontakt zwischen Pelléas, Golauds Halbbruder und Mélisande – und ihr Schicksal verschmilzt ineinander: eine verbotene Liebe, wie bei Tristan und Isolde, weil Golaud inzwischen mit Mélisande verheiratet ist. Bei Debussys tiefenpsychologischen Klängen ist der Blick nach innen gerichtet, in ein vages, nicht fassbares Psychogramm. Ausgehend von der Diktion der französischen Sprache ist die ganze Oper eher wie ein Rezitativ gehalten und am Gesang an der Sprechstimme orientiert, große Arien oder Tableaus fehlen komplett. Das Orchester sorgt für die nötigen und oft faszinierenden Klangfarben, zudem überführt er die Wagnersche Leitmotivtechnik in eine subtile Klangfarbendramaturgie und beschreibt Atmosphären und Seelenstimmungen, die sich der Beschreibung entziehen und selbst die Musik oft nur anzudeuten vermag. Die Handlung bleibt im Vagen, dafür werden psychische Tiefen ausgelotet. Die Tragödie findet nicht als offener Konflikt, sondern als unterschwelliger seelischer Prozess statt. Debussys Musik bleibt ebenso verhalten und nähert sich immer wieder der Stille.

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Unter der monochromen Oberfläche schillern jedoch die vielfältigsten Farben, und Debussy gelingt es, die rätselhafte, morbide Atmosphäre auf kongeniale Weise in Musik umzusetzen wie ein impressionistisches Bild von Claude Monet. Die Videoinstallationen von Marco Brambilla zeigen kosmische Eruptionen, galaktische Impressionen, aus denen immer wieder ein beobachtendes Auge auf die Protagonisten schaut, die dieser überirdischen Macht nicht entfliehen können. Große, überdimensionierte kristalline Stalagmiten symbolisieren die Grenzen des imaginären Königreiches, des Hofes und sind gleichzeitig kraftspendende Quelle. Die Protagonisten bewegen sich wenig und langsam, jeder Schritt ist auf die Musik choreografiert. Die Tänzer mit dem starken Ausdruck der Körpersprache stellen das Unterbewusstsein, das nicht Ausgesprochene dar. Von innerer Liebkosung bis fast zur Ekstase reicht hier die Gefühlsskala. Mélisande trägt ein unglaublich futuristisch elegantes Kleid, das aus einer edlen, anderen Welt zu kommen scheint, genauso rätselhaft wie sie selbst als Person, im Gegensatz zu Arkel, Golaud und Pelléas, die in avantgardistischen schwarzen Anzügen gekleidet sind.

Diese Installation fasziniert aber nicht nur optisch, auch sängerisch und musikalisch ist die Produktion ein Hochgenuss. Allen voran die Sopranistin Mari Eriksmoen. Mit zartem, irisierendem Gesang verleiht sie der Figur der Mélisande etwas Mystisches, Unnahbares. Tenor Jaques Imbrailo, der den Pelléas schon mit großem Erfolg in Zürich und Antwerpen verkörpert hat, gibt die Titelfigur mit Leidenschaft und tenoralem Schöngesang. Bariton Leigh Melrose begeistert als ein von Misstrauen und innerer Zerrissenheit durchsetzter Golaud. Matthew Best gibt den König Arkel mit balsamischem Bass, und die Mezzosopranistin Yvonne Naef gestaltet die Partie der Geneviève, der Mutter von Golaud und Pelléas, mit aristokratischer Noblesse. Jonathan Nott leitet das Orchestre de la Suisse Romande mit großer Hingebung, die sphärischen Klänge der Musik werden wunderbar herausgearbeitet, während die Sänger im Vordergrund stehen und dienend begleitet werden.

Die Kameraführung des Streams lässt den Zuschauer eintauchen in diesen sphärischen Mikrokosmus und teilhaben an der subtilen und tiefenpsychologischen Dreiecksbeziehung. Wer sich auf die Musik Debussys einlassen kann, findet in dieser Inszenierungs-Installation des Grand Théâtre de Genève eine optisch inspirierende und ausdrucksstarke Darbietung.

Andreas H. Hölscher