Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
LES INDES GALANTES
(Jean-Philippe Rameau)
Besuch am
13. Dezember 2019
(Premiere)
Dass Barock-Opern mehr zu bieten haben als drei- bis fünfstündige Arienkonzerte, davon kann man sich mittlerweile in nahezu jeder Aufführung an großen wie kleineren Häusern überzeugen. Vor allem die musikalische und formale Vielfalt, mit der die „Stars“ der Szene von Händel bis Vivaldi und Rameau immer wieder überraschen, beeindruckt, wenn Könner und Kenner barocker Aufführungspraktiken am Werk sind. Anforderungen, die längst nicht nur Spezialensembles erfüllen können, sondern auch normale Sinfonieorchester. Steht einem dann noch ein versiertes Spitzenensemble wie die Cappella Mediterranea zur Verfügung, ist zumindest das musikalische Niveau gesichert. Und daran gibt es an der aufwändigen Neuproduktion von Jean-Philippe Rameaus Ballettoper Les Indes Galantes – Die galanten Inder – am Grand Théâtre de Genève weder instrumental noch vokal auch nur das Geringste auszusetzen.
Beste Voraussetzungen für eine Inszenierung, die den Reizen der spannenden Musik, der originellen Gattung und der interessanten Handlung vertrauen könnte. Doch mit Zurückhaltung tut sich die amerikanische Regisseurin Lydia Steier, wie schon vor wenigen Wochen in ihrer Kölner Carmen, schwer. Es leuchtet zwar ein, dass Rameaus Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, die angesichts der damals beschränkten Kenntnisse exotischer Kulturen nicht frei von Klischees bleiben kann, zu einer besonderen Akzentuierung rassistischer Aspekte auffordert. Schließlich stammt das 1735 uraufgeführte Werk aus einer Zeit, in der die Kolonisation fremder Länder bis hin zum Sklavenhandel einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat. Allerdings tut man Rameau Unrecht, wenn das Problem so stark betont wird, dass der tänzerisch-fragile Gestus des Werks verlorenzugehen droht.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Gesang | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Regie | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Bühne | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Publikum | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Chat-Faktor | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Rassistische Ambitionen kann man weder Rameau noch dem Werk unterstellen. Es ist der Reiz des Fremden, des Exotischen, das die meisten Zeitgenossen allenfalls aus Erzählungen von Abenteurern und Seeleuten her kannten, der Rameau interessiert. Reize, die sich in vier Handlungen widerspiegeln, von denen zwei thematisch Mozarts Entführung aus dem Serail nahestehen. Kombiniert mit einer prächtigen Episode aus dem Inka-Reich und einer Geschichte aus Nordamerika, dessen Ureinwohner Rameau noch als „Inder“ bezeichnet, nicht als Indianer. Am Ende zeigt sich, dass das Handeln der Menschen, wann und wo auch immer auf der Welt, von den gleichen Begierden und Gefühlen zwischen Liebe, Leidenschaft und Machtbesessenheit gesteuert wird.
Der Erste Akt, Le turc généreux – Der großmütige Türke – entspricht nahezu vollständig dem Handlungsrahmen von Mozarts Entführung. Ein Pascha verzichtet auf die Liebe zu seiner christlichen Sklavin und schenkt am Ende ihr und ihrem Geliebten großmütig die Freiheit.
Komplexer und tragischer ist der zweite Akt angelegt, Les Incas au Pérou – Die Inkas in Peru. Huascar, der Inka-Hohepriester der Sonne, begehrt die Prinzessin Phani, die jedoch den spanischen Konquistadoren Don Carlos liebt. Auf einem großen Sonnenfest beklagt Huascar in einer grandiosen Gesangsszene die Zerstörung der Weihestätten durch die Spanier. Am Ende verliert er nicht nur seine Geliebte an den Spanier, sondern auch sein Leben, indem er nach einem Erdbeben und einem Vulkanausbruch von einem Felsbrocken erschlagen wird.
Der dritte Aufzug, Les Fleurs – Die Blumen – ähnelt der nach Persien verlagerten Handlung der Entführung, allerdings mit einem stark ironischen Zungenschlag, der die Episode wie ein Scherzo in einer viersätzigen theatralischen Symphonie anmuten lässt.
Im vierten Aufzug, Les Sauvages – Die Wilden – kommt es in den Wäldern Nordamerikas zu Konflikten zwischen den als „Sauvages“ bezeichneten „Indes“, also Indianern, und französisch-spanischen Einwanderern, die mit einem großen Friedenstanz harmonisch überwunden werden.
Foto © Magali Dougados
Die spezifisch französisch gefärbte Gattung „Ballettoper“ bringt Probleme mit sich, wenn man aus den vier mit etlichen Tänzen durchsetzten Akten eine dramaturgisch und konzeptionell geschlossene Inszenierung schmieden will. Lydia Steier umgeht die Gefahr, die Tänze lediglich als auflockernde, die Handlung unterbrechende oder aufhaltende Intermezzi aufzufassen, indem sie das Ballett-Corps und deren Tänze konsequent in die Handlung einbezieht. Das bedeutet, dass die Tänzer permanent anwesend sind und auch die Arien wie ein Bewegungschor unterstützen. Mit separaten Tanzeinlagen geht man dagegen sehr sparsam um. Damit werden allerdings die Möglichkeiten des an sich sehr innovativen Choreografen Demis Volpi eingeschränkt und bleiben eng an die Vorgaben der Regisseurin gebunden.
Die Hoffnung, dass sich dadurch ein klarerer Ablauf der Handlungen herstellen lassen könnte, trügt allerdings. Die Bühne ist stets von Menschenmassen überflutet, die, in ständiger Bewegung, den Blick auf die Protagonisten erschweren. Auch das an sich eindrucksvolle Einheitsbühnenbild von Heike Scheele, das die Handlungsstränge zusammenführen soll, vermag das Problem nicht gänzlich zu lösen. Gespielt wird in einer von Patina befallenen, einem historischen, bis an die Decke mit Logenbrüstungen ausgestatteten Opernhaus nachempfundenen Kulisse, die im Laufe des Stücks immer weiter zerfällt und optisch einen nachdenklichen Kontrapunkt zum optimistischen Ausgang des Stücks setzt.
Dass Steier den Abend nicht als Märchenstunde mit vier isolierten Stücken verstanden wissen will, ist verständlich. Allerdings gleichen sich die Eindrücke im Verlauf des Abends durch die einheitlichen Bilder und Kostüme zunehmend an. Da bedarf es schon prägnanter Akzente, wenn etwa Bilderbuch-Türken mit extrem fetten Bauch-Prothesen und überdimensionalen Turbanen ausgestattet werden. Da die allgemeine, im Persischen Akt bis zur bizarren Groteske auf die Spitze getriebene Verkleidungs-Manie auch Geschlechterwechsel einschließt, wird inmitten der optischen Reizüberflutung die Identifikation der Figuren noch zusätzlich erschwert. Wie auch der Blick auf die im Grunde schlichte Botschaft, dass die Menschen aller Zeiten und Kontinente ziemlich ähnlich ticken, wenn es um emotionale Grundbedürfnisse geht.
So gut wie keine Abstriche gibt es an der musikalischen Ausführung vorzunehmen. Einen vierstündigen Barock-Abend unter Spannung zu halten, das erfordert Stilgefühl und Sinn für kompositorische Feinheiten, was Leonardo Garcia Alarcón mit der erstklassigen Cappella Mediterranea souverän gelingt. Prachtvoll auch der Chor der Genfer Oper, der, wie die Balletttänzer, darstellerisch ständig auf Trab gehalten wird. Die ebenfalls sorgfältig ausgesuchten Solisten haben meistens zwei bis drei Partien zu besetzen, was die Unterscheidung der Rollen nicht erleichtert. Einhellige Zustimmung verdienen sie alle: Die Sopranistin Kristina Mkhitaryan in gleich drei Rollen als Hébé, Émilie und Zima, die Sopranistin Claire de Sévigné als Phani, die Sopranistin Roberta Mameli als Amour und Zaïre, die Sopranistin Amina Edris als Fatime, der Bariton Renato Dolcini als Bellone, Osman und Adario, der Bassist Gianluca Buratto als Ali, der Countertenor Anicio Zorzi Giustiniani als Don Carlos und Damon, der Bassist François Lis als Huascar und Don Alvaro sowie der Countertenor Cyril Auvity als Valère und Tacmas. Abgesehen von den letzten beiden Genannten handelt es sich ausschließlich um Rollendebütanten.
Begeisterter Premieren-Beifall nach einem langen, spannenden und aktionsreichen Abend.
Pedro Obiera