O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Carole Parodi

Aktuelle Aufführungen

Oper ohne Grenzen

GUERRE ET PAIX
(Sergej Prokofieff)

Besuch am
13. September 2021
(Premiere)

 

Grand Théâtre de Genève

Die Eröffnungspremiere des Grand Théâtre de Genève mutet wie ein Befreiungsschlag von den Fesseln der Pandemie an. Sergej Prokofieffs monumentales Gesellschafts- und Politdrama Krieg und Frieden in voller Besetzung mit fast 30 Solorollen, einem riesigen Chor- und Orchesterapparat ohne jede szenische Einschränkung auf die Bühne zu stellen, wäre vor wenigen Monaten noch als hygienisches Harakiri in die Theatergeschichte eingegangen. Nicht nur mit der Wahl des Stücks, auch mit der Verpflichtung des Regisseurs Calixto Bieito signalisiert Intendant Aviel Cahn, dass in Genf endlich wieder Oper ohne Grenzen angesagt ist. Wenn der Chor nach der Pause direkt an der Rampe aus übervoller Brust die patriotischen Durchhaltegesänge des von den Franzosen bedrängten russischen Volks ins Publikum schmettert, scheint es, als schnürten sich die Masken des ohne Abstand postierten Publikums noch enger zu.

In einem Punkt hat Cahn sicher Recht. Prokofieffs Oper bietet alles an Aufwand, Effekt, psychologischer und politischer Aussagekraft, was die Gattung zu bieten hat. Dafür sorgt schon die vielschichtige Vorlage von Leo Tolstois gleichnamigem Roman, den der Komponist und dessen Frau Mira Mendelson-Prokofjewa auf ein knapp vierstündiges Opernformat zurechtgestutzt haben. Und zwar zur Zeit des Einmarschs der deutschen Truppen ab dem Winter 1941. Prokofieff sah darin eine Analogie zum früheren „großen vaterländischen Krieg“, der Belagerung durch Napoleon um 1812. Ereignisse, die beide unermessliches Leid über das Land gebracht, aber dennoch nicht zur Kapitulation geführt haben. Dass Prokofieff mit seinem Werk und den Rückblick auf Tolstois Darstellung seinen Zeitgenossen Kraft und Hoffnung schenken wollte, hebt ihn von platten patriotischen Durchhalte-Rhetorikern ab.

Foto © Carole Parodi

Interessant, dass Calixto Bieito die unmittelbaren politischen Hintergründe nicht interessieren. Napoleon wird als solcher kaum wahrgenommen und direkte Bezüge zu Hitlers Invasion kommen gar nicht vor. Bieito schildert eine dekadent durchseuchte Oligarchen-Elite, die an ihrer eigenen Selbstgefälligkeit und Empathielosigkeit zugrunde geht und das ganze Land mit sich in den Ruin zieht. Es bedarf nicht ausländischer Invasoren, um Moskau zu zerstören. Den Keim des Untergangs trägt die Gesellschaft in sich selbst. Insofern bleibt ein blutiges Schlachtengemälde, wie man es von Bieito erwarten könnte, überraschenderweise aus. Die feindlichen Eindringlinge und die verwöhnten russischen Oligarchen von einst lassen sich kaum unterscheiden.

Im gleich langen ersten Teil der Oper scheint es zunächst nur um die Liebeswirren junger verwöhnter Adeliger zu gehen. Eine Fassade, die Bieito geschickt durchbricht. Das Einheitsbühnenbild von Rebecca Ringst zeigt ein immens luxuriöses, einem Saal der St. Petersburger Eremitage nachempfundenes Interieur, in dem einst die Hessenprinzessin Maria Alexandrovna als Gattin von Alexander II. residierte. Am Anfang der Inszenierung scheint der Saal verlassen, das Mobiliar mit Folien verhüllt. Nur die junge Natascha wandelt durch das leblose Museums-Szenario. Langsam entsteigen Menschen den verhüllten Sesseln und Diwans und es entwickelt sich eine Beziehung zwischen Natascha und dem schwärmerischen Andrei, die durch den großspurigen Anatol und den visionären Pierre in wirre Komplikationen gestürzt wird. Der Versuch Nataschas und Andreis, dem goldenen Käfig zu entfliehen, scheitert. Die reich verzierten Wände erweisen sich als undurchdringliche Kerkermauern. Natascha geht eine halbherzige Vernunftehe ein und wartet vergebens auf ihr Glück, bis sie, erst ganz am Schluss, als eine der wenigen Überlebenden gereift und selbstbewusst einer neuen Zukunft entgegengeht.

Foto © Carole Parodi

Beeindruckend, wie sich im zweiten Teil die Wände und Decken inmitten der oberflächlichen und gefühlsarmen Welt des russischen Adels aufzulösen beginnen. Die Franzosen können ihre Kanonen schonen. Sie brauchen der Selbstzerfleischung des morbiden Regimes nur zuzuschauen. Am Ende, der Salon liegt in Trümmern, überfluten Video-Sequenzen die Bühne, in denen eine dritte staatsgefährdende Invasion vorweggenommen wird. Heuschrecken, Dürren und andere Vorboten der Klimakatastrophe geben dem Stück eine neue, überraschende, erstaunlich überzeugende, aktualisierende Wendung.

Es ist nicht immer leicht, Bieitos reizüberfluteter Detailfülle zu folgen. Aber so konzentriert, ohne schockierenden Ehrgeiz, ohne überdrehten Aktionismus, präsentierte er sich bisher in den wenigsten seiner Inszenierungen.

Eine Bewährungsprobe wird der aufwändige Abend auch für den jungen Dirigenten Alejo Pérez, der Prokofieffs Füllhorn an stilistischen Ausdrucksmitteln von zartestem Walzer-Gesäusel bis zu dräuenden Schlachtenhymnen voll und wie befreit auskostet. Ein Kraftakt, den auch das Orchester konzentriert stemmt. Gesanglich bewegt sich das Genfer Haus auf gewohnt hohem Niveau. Die wohl dankbarste Partie, die der Natascha, erfüllt Ruzan Mantashyan darstellerisch und gesanglich in allen ihren Fassetten mit ebenso eindringlicher wie berührender Intensität. Björn Bürger glänzt als Andrei mit allen Qualitäten eines Kavalierbaritons. Daniel Johansson gibt dem radikalen Profil des Pierre Ausdruck. Dmitry Ulyanov als Feldmarschall Kutzow überzeugt mit seinem substanzreichen Bass ebenso wie Aleš Briscein als Anatol mit seinem pointierten Tenor. Und auch der Rest des vielköpfigen Ensembles weist keinerlei Schwächen auf. Erst recht nicht der voluminös auftrumpfende Chor.

Ein langer, durch reizüberflutende Wogen anstrengender Abend, der nicht nur vor Gefahren der Zukunft warnt, sondern zugleich befreiend wie das Erwachen aus einem künstlichen Koma Hoffnung signalisiert. Entsprechend begeistert fällt der Beifall für alle Beteiligten aus.

Pedro Obiera