O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Carole Parodi

Aktuelle Aufführungen

Depression statt Trauerarbeit

DIDO AND AENEAS
(Henry Purcell)

Gesehen am
3. Mai 2021
(Premiere/Stream)

 

Grand Théâtre de Genève

Die Gesetze der Logik schlagen in der Opernwelt mitunter seltsame Haken. Nicht nur in den mitunter kruden Handlungen, sondern auch in der Programmplanung. Henry Purcells Barock-Oper Dido and Aeneas erfreut sich nicht zuletzt wegen ihrer komprimierten dramaturgischen Anlage und ihrer differenzierten Gefühls- und Tonsprache zurecht großer Beliebtheit. Dennoch vertrauen viele Planer und Regisseure der Tragfähigkeit des knapp einstündigen Stücks so wenig, dass sie es lieber mit mehr oder weniger fragwürdigen Zutaten auf Abendlänge aufblasen, anstatt es mit einer anderen Mini-Oper zu kombinieren, von denen es erheblich mehr gibt als die bekannten Hits von Leoncavallo, Mascagni und Puccini.

So wurde Purcells Meisterwerk aus dem Jahre 1688/99 vor drei Jahren von David Marton auf der Ruhrtriennale in Duisburg und 2017 von Cécile Roussat und Julien Lubek in Lüttich auf mehr als das Doppelte seiner Länge ausgewalzt. Und die Genfer Oper, die ihre Online-Version des Stücks als „Höhepunkt der Saison“ ankündigt, macht es nicht anders. Hier wird das Kernstück von Purcell und seinem Librettisten Nahum Tate von musikalischen Intermezzi des Komponisten Atsushi Sakaï, diversen von Regisseur Andy Sommer eingefügten Monologen und allerlei getanzten Beilagen des Choreografen Franck Chartier und seinem Tanzensemble Peeping Tom zur Dekoration einer Kreation entwertet, die mehr von der Fantasie der Macher verrät als vom Stück und seinen Qualitäten.

Foto © Carole Parodi

Offensichtlich hält man die introvertierte, auf seelische Erschütterungen konzentrierte Trauereloge für so wenig theaterwirksam, dass man es einem heutigen Publikum ohne effektvolle Ballaststoffe nicht mehr zumuten kann. Interessant, dass alle derartigen Versuche die psychischen Empfindungen vor allem der weiblichen Hauptfigur nicht vertiefen, sondern, ganz im Gegenteil, die von innerer Stärke getragene, erhabene Trauerarbeit Didos zu dumpfen, unbewussten Depressionen verwässern. Damit verliert auch die von Leben erfüllte und eben nicht hoffnungslos resignierende Musik ihre positive Wirkung. Vor allem, wenn man als Zugaben nicht mehr zu bieten hat als die synthetisch zusammengemixte und breitgewalzte Klangsoße von Atsushi Sakaï, einem Mitglied des hervorragenden Instrumentalensembles Concert d’Astrée, aus der die Originalteile wenigstens ab und zu wie Diamanten hervorleuchten dürfen. Regisseur Andy Sommer trägt auch nicht zur Erhellung der Kreation bei, wenn die Figuren nicht eindeutig identifizierbar werden und Monologe hinzugefügt werden, die ohne Untertitel das Verständnis zusätzlich erschweren. Zu sehen gibt es viel, aber auch viel Ablenkendes. Man beginnt in einem offensichtlich eleganten englischen Salon des 19. Jahrhunderts, dessen Wände sich zunehmend öffnen und der sich durch einfließende Sandmassen in eine Wüstenlandschaft verwandelt. Interessant, wie sich dadurch die Szene umso stärker aufhellt, je stärker sich die Stimmung Didos verdunkelt. Auch die schwarzen Gewänder der Gesellschaft weichen weißen Tuchen, von der angedeuteten Nacktheit des Balletts ganz abgesehen. Immerhin wird dadurch eine Prise archaischer Abstraktion angedeutet, die einen unverstellten Blick in die Seelenlandschaft Didos ermöglichen könnte, wenn der tänzerische Aktionismus auf der Bühne den Eindruck nicht verwässerte.

Wie so oft führt die Regie hier ein so dominierendes Eigenleben, dass die musikalischen Leistungen längst nicht so zentral wahrgenommen werden dürften, wie sie es verdienen. Und verdient hätten es die versierte Dirigentin Emmanuelle Haïm und das Concert d’Astrée sowie das glänzende Gesangsensemble in vollen Zügen. Haïm unterstützt die feinen psychischen Empfindungen der Figuren leuchtkräftig, ebenso zart wie vital und trifft damit exakt den von Stärke erfüllten Trauerton, den die Inszenierung verfehlt. In der ergreifenden Darstellung der weiblichen Titelfigur durch Marie-Claude Chappuis, die zugleich verwirrenderweise die Zauberin und einen Geist verkörpert, bedurften die Monologe der Dido keiner szenischen oder gar akustischen Ablenkung. Einen männlich entschlossenen Aeneas singt mit entsprechender Emphase Jarrett Ott. Eine den Titelfiguren adäquate Leistung gelingt Emőke Baráth als Belinda. Chor und der Rest des Ensembles passen sich dem Niveau nahtlos an.

Musikalisch eine Sternstunde, szenisch eine eher verwirrende als vertiefende Deutung des Werks. Angesichts so starker Eingriffe und Zusätze wären Untertitel und ein paar Informationen zur Produktion hilfreich gewesen.

Pedro Obiera