O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Carole Parodi

Aktuelle Aufführungen

Urgewalt in der Urversion

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgski)

Besuch am
28. Oktober 2018
(Premiere)

 

Grand Théâtre de Genève, Opéra des nations

Es ist kein schöner Land in dieser Zeit. Der Emporkömmling Boris Godunow begeht angeblichen Kindesmord, um an die russische Zarenkrone zu gelangen und wird in der Folge nicht nur von seinem schlechten Gewissen eingeholt, sondern auch von einem rachsüchtigen Mönch. Der Gottesmann aus Polen mit Namen Grigori bringt sich als Thronfolger ins Spiel nimmt dabei die Identität des Ermordeten an. Das Grand Théâtre Genève präsentiert Modest Mussorgskis Oper nach dem gleichnamigen Drama von Alexander Puschkin in einem Guss und setzt dabei auf die Urfassung des Komponisten von 1869, die seinerzeit bei der Zensurbehörde in Ungnade fiel. Das ist ein mutiger Schritt, denn die Gründe für das damalige njet sind heute noch nachvollziehbar: Bei der etwas über zweistündigen Variante handelt es sich um ein Männer dominiertes Opus, während die später von Mussorgski überarbeitete und 1874 in Petersburg uraufgeführte Form auch den Frauencharakteren mehr Raum gibt.

Modest Mussorgskis erster Wurf spielt ganz auf die Hauptfigur. Im Zentrum steht mit Boris Godunow ein Mann mit Machtgier aber ebenso großer Verunsicherung. Am Schluss wird der Herrscher seinen Ängsten erliegen und als gebrochene Figur tödlich zusammenbrechen. Das drückt sich auch in der Musik aus, die den Niedergang von Boris Godunow bereits im Prolog mit reichlich Bombast sowie sakralen Chorgesängen antizipiert und im Verlauf einen für diese Zeit kaum gehörten Sog entwickelt. Regisseur Matthias Hartmann findet für die stete Bedrohung eine passende Bildsprache und setzt vornehmlich auf die rudimentären Requisiten von Bühnenmeister Volker Hintermeier. Sechs modulare wie begehbare Metallkonstruktionen bilden den Rahmen. Die erweisen sich als probater Schachzug, um das in mehreren Bildern angelegte Volksdrama in eine Kathedrale, ein Kloster oder eine Schänke zu verwandeln. Peter Bandl illuminiert den Raum mit düsteren Braun- und Rottönen und transportiert damit eine sinistre Atmosphäre, wie man sie vom Film noir kennt. Ähnlich arbeitete Calixto Bieito 2017 für Sergei Prokofjews Der feurige Engel am Opernhaus Zürich.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Hartmann legt sich bei seiner Lesart zeitlich nicht fest. Das ausgehende 16. Jahrhundert mit seinen Hungersnöten, in dem Puschkin sein Drama verortet, ist es zum Glück nicht. Wir sehen ein Russland, das für seinen üblen Machtmissbrauch genauso gut in der Zeit der späten Sowjetunion oder im Heute mit schwelendem Ukraine-Konflikt und erstarkender Putin-Power angelegt sein könnte. Malte Lübben spielt kostümtechnisch lustvoll mit den Stilepochen, er zeigt die Jugend mit Walkman oder Hockey-Shirt, steckt die Armen in eine traditionelle Babuschka-Tracht und lässt die adligen Bojaren ihren Faible für Le Corbusier & Co. ausleben. Mit einem politischen Augenzwinkern ist ein betrunkener Mönch im ersten Akt angelegt, der zweifelsohne an Schauspieler Gérard Depardieu erinnert, der wiederum keinen Hehl aus seiner Affinität für den aktuellen Präsidenten macht. Dank der Wände auf Rollen, die ein wenig an die Feuerleitern an Manhattans Backsteinwänden erinnern, gibt es genug Platz für den Chor, der in dieser Oper eine zentrale Rolle spielt. Ein monströses orthodoxes Kreuz und ein leuchtender kyrillischer Schriftzug für Boris wähnt einen unfreiwillig in einer konventionellen Musicalversion von Bernsteins West Side Story. Beim Schwenk ins allzu Anschauliche kriegt Hartmann die Kurve und gleitet nicht ins Plakative ab. Die großen Effekte erzielt er mit feinem Gespür und minimalistischen Mitteln, was sich mitunter negativ in einem Rampensingen offenbart.

Foto © Carole Parodi

Der Held der Opernstunde, im Stück ein Antiheld, heißt Mikhail Petrenko. Der Bass ist eine Idealbesetzung. Seine Linienführung ist unangestrengt und zielgerichtet. Petrenkos Stimme hat einen warmen Grundton und verliert im Forte nie an Farbenpracht. Mit offener Kehle, die mühelos in den tiefen Keller geht und dort sonor weiterklingt, bringt er alle Schattierungen der gemarterten Russenseele zum Ausdruck. Den tiefen Fall vom Machtmenschen zum Häufchen Elend vollzieht Petrenko mit packender Authentizität. Diese reife Darstellung wird in Genf von einem bestens aufgestellten Ensemble flankiert. Keiner von Petrenkos Mistreitern fällt gesanglich ab, auch wenn einzelne Parts klein angelegt sind. Alexey Tikhominov bietet mit seinem wandelbaren Charakterbass Paroli und überzeugt auch darstellerisch als vagabundierender Mönch Varlaam. Serghej Khomov ist als Godunows Gegenspieler Grigori herrlich intrigant und lässt seinen luziden Tenor derart hell strahlen, dass man ihm die Rolle eines 20-Jährigen auf der stimmlichen Ebene gerne abnimmt. In dieser Oper der dunkel gefärbten Männerstimmen sorgen auch die beiden Bässe Vitalij Kowaljow und Oleg Budaratskiy sowie Bariton Roman Burdenko für prächtiges Brummen und Glühen. Andrei Zorin betört als Schwachsinniger mit einem buffonesken Tenor, der mit luftigen Kantilenen punktet. Klare Akzente setzt auch Tenor Andreas Conrad als Fürst Wassili. Bei den Frauencharakteren, allen voran Sopranistin Melody Louledjian als Xenia und Mezzosopranistin Marina Viotti in der Hosenrolle des Fiodor, muss man konstatieren: Hier schmerzt der Entscheid für die Urversion, man hätte gerne mehr von dieser vokalen Pracht gehört.

Paolo Arrivabeni gelingt es mit seinem konzisen Dirigat, dieses mehrschichtige Werk, das von der russischen Volksweise über veristisch anmutende Leidenschaft bis hin zu fulminanter Apotheose reicht, in seiner Vielfalt und Dynamik abzubilden. Das Orchestre de la Suisse Romande findet mit Arrivabeni zur faszinierenden Tonsprache eines Komponisten, der seiner Zeit voraus war und der mit der Harmonik genussvoll experimentierte. Die Spannbreite von wuchtigen Glockenklängen bis hin zu sehnsüchtigem Violinen-Flirren macht diesen Mussorgski zu einem infernalischen und gleichzeitig intimen Vergnügen. Auf gleich hohem Niveau agiert auch der prominent platzierte Chor der Genfer Stätte unter der präzisen Anleitung von Alan Woodbridge. Er setzt dieser Produktion, die großes Musiktheater bietet, die Krone auf.

Peter Wäch