O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Isabel Machado Rios

Aktuelle Aufführungen

Lob der Arbeit

STADT DER ARBEIT
(Volker Lösch, Ulf Schmidt)

Besuch am
8. Oktober 2021
(Uraufführung)

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Arbeitslosenstatistiken bestehen aus Zahlen. Auch die, dass die Hälfte der 167.000 Einwohner Gelsenkirchens im erwerbsfähigen Alter über keinen festen Job verfügen. Dass dahinter Schicksale von Menschen und ganzen Familien stehen, wird leicht übersehen. Für Regisseur Volker Lösch geht es mittlerweile nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern darüber hinaus um die damit verbundene Armut, die auch Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen betrifft. Mit einem interessanten Projekt tritt Lösch zusammen mit dem Autor Ulf Schmidt und dem Musiker Michael Wilhelmi gegen hartnäckige Vorurteile im Umfeld dieses Themas an. Auch gegen Meinungen, Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger seien an ihrer Situation selbst schuld.

Als Zeugen hat er 15 von diesem Los betroffene Bürger Gelsenkirchens um sich versammelt, ihre Erfahrungen und Lebensberichte von Ulf Schmidt zu einem Libretto verarbeiten und sie quasi als Protagonisten aktiv in das Musiktheater-Projekt Stadt der Arbeit integriert. Sie sind die eigentlichen Stars des Ganzen. Entstanden ist eine Mischung aus Dokumentations-Theater und Musical. Frech, flott, beklemmend, aber nicht dozierend. Gelsenkirchener Lokalkolorit bleibt ausgespart. Regionale Grenzen verträgt das Thema nicht.

Nach einer munteren musikalischen Einleitung der von Michael Wilhelmi am Klavier und Keyboard angeführten siebenköpfigen Band mit Umdeutungen der Hymnen der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR sowie der zum Lob der Arbeit verfremdeten Ode an die Freude blickt man auf 15 Käfige, in denen in orangefarbener Gefängniskleidung gewandete Menschen verschiedener Altersgruppen vor sich hindümpeln. Teils resigniert, teils an den Gitterstäben rüttelnd, teils hospitalisiert enge Runden drehend. Bewacht von dem zynisch bis brutal auftretenden Wächter-Duo Petra und Gerd, von Gloria Iberl-Thieme und Glenn Goltz nicht nur knüppelschwingend platt, sondern mit hintergründiger Ironie und damit besonders verletzender Intensität brillant und virtuos gespielt.

Foto © Isabel Machado Rios

Im ersten Teil lassen Petra und Gerd keine Gelegenheit aus, den „arbeitsscheuen Insassen“ Schuldgefühle an ihrer prekären Situation einzuhämmern und ihnen den letzten Rest an Selbstbewusstsein und Hoffnung zu nehmen. So unterschiedlich die Opfer reagieren, so vielfältig sehen ihre Biografien aus. Einigkeit herrscht in dem Wunsch, Arbeit zu finden und als Mensch und Bürger geschätzt zu werden. Und Einigkeit besteht auch darin, dass niemand aus eigener Schuld in die Mühlen einer Bürokratie geraten ist, die Arbeitslosigkeit und Armut nur verwaltet, aber nicht mildert. Das wird nicht zuletzt in einer Slapstick-reifen Szene in überdrehtem Tempo eindrucksvoll dargestellt, wenn das Ausfüllen unzähliger Antragsformulare zum Selbstzweck und letztlich zu einer demütigenden Unterdrückungs-Zeremonie gerät.

Die 15 Gelsenkirchener Bürger vertreten einen recht repräsentativen Ausschnitt aus der Masse der Arbeitslosen. Die alleinerziehende Mutter, der unbequeme Gewerkschafter, der Flüchtling, der betriebsbedingt „Freigesetzte“, der über Fünfzigjährige, der Behinderte und der vorübergehend Kranke: Für Petra und Gerd sind sie ausnahmslos arbeitsscheue Traumtänzer, radikale Systemverweigerer und notorische Schwänzer.

Im zweiten Teil sind die Käfige verschwunden. Die Ausstattung hat Carola Reuther übernommen. Ein Wunder ist geschehen: Ein Arbeitsplatz steht zur Disposition. In einer Art Casting-Show müssen die „Insassen“ um den begehrten Platz kämpfen. Arbeit und Mensch werden zur Ware. Sie alle zeigen Stärken. Als Sänger, als ausdauernder Radrennfahrer und der syrische Emigrant beweist seine Integrations-Fortschritte sogar mit einem deftigen Schuhplattler. Und das verstörend gut. Letztlich tragen sie allerdings mehr zur Belustigung der Wächter als zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bei. Das Ende bleibt offen. Man vereinigt sich zu einem Protestchor: „Der Reichtum der Zukunft sind wir. Wenn ihr uns nicht in Armut haltet.“

Die Musik spielt in der Stadt der Arbeit eine eher untergeordnete Rolle. Einige Songs, die Mutationen der Hymnen und die Einlagen einiger „Protagonisten“ lockern die fast dreistündige Aufführung auf. Das Gesangs-Duo Eleonore Marguerre und Sebastian Schiller alias Labora und Dromus singt sich zwar in verschiedenen Rollen als Adam und Eva sowie als Teufel und Engel munter und hörenswert durch die Handlung. Der Sinn ihrer Auftritte will sich aber nicht so recht erschließen.

Gewiss erinnert manches an die Agitprop-Szene der 70-er Jahre. Und ebenso gewiss wirkt manches überzeichnet und plakativ. Wichtig ist aber, dass hier nicht über Betroffene und deren Los gesprochen wird, sondern sie selbst als Sprachrohr und Akteure wahrgenommen werden können.

Viel Beifall für ein Musiktheater-Projekt der besonderen Art.

Pedro Obiera