O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Hütchenspiele und blanke Energetik

MILLENNIALS
(Marcos Moraus, Maura Morales)

Besuch am
6. Mai 2022
(Premiere)

 

Musiktheater im Revier, Kleines Haus, Gelsenkirchen

Befasst man sich ernsthaft und halbwegs vernunftbegabt mit dem Thema der Generation Y oder den Millennials, wird man recht schnell zu dem Ergebnis kommen, dass der Erkenntnisgewinn niedrig ist. Schon über die Einordnung, welche Generation da eigentlich gemeint sei, gibt es keine schlüssigen Definitionen. Im Allgemeinen sollen darunter die Menschen zusammengefasst werden, die zwischen 1988 und 1999 geboren sind – oder irgendwie so. Diesen aber spezifische Eigenschaften zuzuordnen, führt meist in die Irre. Da ist häufig zu lesen, die Generation Y lege keinen Wert mehr auf Autos als Statussymbole. Gleichzeitig muss man wissen, dass diese Generation über erheblich weniger Einkommen verfügt. Kommt aber jemand aus dieser Altersklasse in den Genuss eines auskömmlichen Gehaltes, hat er auch ganz schnell „typischerweise“ einen SUV vor dem Haus stehen. Warum also sind die Millennials, zu Deutsch die „Jahrtausender“, also Menschen, die zu Beginn des Jahrtausends aufgewachsen sind, überhaupt ein hartnäckiges Thema? Vielleicht, weil sich diesen Menschen alles und nichts zuschreiben lässt. Da kann man vieles behaupten, ohne dass es gänzlich falsch wäre.

Der Choreograf Marcos Morau beispielsweise sieht in seiner Generation „die Unfähigkeit, sich verbunden zu fühlen“ und attestiert ihr eine „Seelenlosigkeit, die sie durch digitale Hyperkommunikation zu füllen“ versuche. Allerdings ist der Glaube, die zunehmende Individualisierung – und Vereinzelung – sei ein Generationenmerkmal, wohl so nicht zu belegen. Vielmehr ist es doch wohl eine gesellschaftliche Strömung, die der neoliberalen Behauptung, jeder sei seines Glückes Schmied und damit für seinen persönlichen Erfolg verantwortlich, entstammt, von der alle von Anfang an wussten, dass sie in der gemeinten Aussage nicht stimmt, sondern immer nur ideologischen Interessen diente. 2018 kreierte Morau für die Tänzer seines experimentellen Theaters La Veronal und des taiwanesischen Ensembles B.Dance ein Stück unter dem Titel Millennials, das heute Abend im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier, Gelsenkirchen, zur Aufführung kommt. Wo es am theoretischen Überbau mangelt, zeigt sich Morau als Meister schön getanzter Bilder.

Die zehn Tänzer der MiR Dance Company sind in schwarze Kostüme gekleidet, die den Frauen der Mormonen in Amerika abgekupfert sind: Bodenlange Röcke zu hochgeschlossenen Oberteilen, die hinten geknöpft sind. Dazu tragen sie, das mag interpretieren, wer will, Hüte mit weiten, herabfallenden Krempen, die an den Kopfschmuck ultraorthodoxer Rabbiner erinnern. Und um die religiöse Vielfalt zu komplettieren, ist eine der stärksten Szenen, wenn das Ensemble einen Derwisch-Tanz zeigt. Zur Musik von Scott Walker und Caroline Shat, bei der ein englischsprachiger Text über Musikklänge gelegt wird, zeigen die Tänzer das immer wiederkehrende Motiv, bei dem eine Tänzerin von der Gemeinschaft „behütet“ wird. Die bodenlangen Röcke sind ein alter Trick, um das scheinbar schwebende Dahingleiten der Tänzer zu ermöglichen. Das ergibt eben wunderschöne Bilder. Thomas Ratzinger wählt weißes Licht, von dem es manches Mal etwas mehr sein dürfte, um die schwarzen Gestalten aus dem schwarzen Hintergrund herauszuschälen. Aber insgesamt kann die halbstündige Choreografie begeistern. Findet auch das Publikum.

Sehr viel zutreffender zeigt sich der Titel Rayuela, den Choreografin Maura Morales und Komponist Michio Woirgardt für ihre neueste Arbeit wählen. Bis heute findet der aufmerksame Beobachter auf Gehwegen die neun Quadrate auf Gehwegen oder Schulhöfen mit Kreide gezeichnet, die für das Spiel notwendig sind, das Kinder in Deutschland unter dem Namen Himmel und Hölle spielen. Wunderbare Assoziationen von kleinen Schulmädchen auf der ganzen Welt, manche in Schuluniformen, stellen sich da ein, die mit einem Steinchen und blitzschnellen Sprüngen entscheiden, ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. So unbeschwert geht es auf der Bühne nicht zu.

Morales und Woirgardt haben in der so genannten Freien Szene fantastische Arbeiten abgeliefert. Immer häufiger werden sie jetzt – endlich – auch von städtischen und staatlichen Bühnen angefragt. Das bedeutet für die Anhänger der Cooperativa Maura Morales, dass sie die beiden seltener selbst auf der Bühne erleben. Aber es meint auch, dass sie sich weiterentwickeln können. Das Potenzial haben sie, wie sie heute Abend mit „Dantes Göttlicher Komödie als Kinderspiel“ beweisen. Wie so oft spielt Morales gern mit der Nacktheit, ohne die Scham zu verletzen. Und so hat sie die Tänzer in rosafarbene Unterhosen und halbtransparente Anzüge gekleidet. Die Brustwarzen hat sie mit braunem Pflaster in Dreiecken verkleben lassen. Wer das prüde findet, weiß spätestens in der Eröffnung, wenn die Tänzer bäuchlings auf die Bühne rutschen, warum hier besonders schmerzempfindliche Körperstellen schützenswert sind. Schutz brauchen die Balletttänzer auch an den Knien, denn in der nächsten halben Stunde werden sie gnadenlos gefordert. Hier ist eher Martial Arts denn Spitzentanz gefragt. Auf dem Weg zwischen Himmel und Hölle absolvieren die Tänzer einen wahren „Höllenritt“ zwischen Tanz und Akrobatik. Woirgardt hat dazu eine brutal-energetische Musik geschaffen, die die Zuschauer auf die Vorderkante ihrer Sitze treibt. Beim Licht unterstützt Grace Morales Ratzinger, was für erheblich stärkere Akzente und mehr Deutlichkeit sorgt. Ob der dramaturgische Bruch in Form eines leidenden Solos nach 20 Minuten notwendig ist, kann man diskutieren, aber die anschließende Achterbahnfahrt entschädigt voll und ganz. Und dann stehen die acht Tänzer plötzlich auf einer Linie und ringen nach Luft, um unvermittelt zu einer sanften Melodie anzusetzen. Sensationell. Dass die Tänzerin, die ihre Finger noch den beiden Kollegen in den Mund steckt, um sich zu retten, am Ende sanft zu Tode kommt, mag Zeichen der Erlösung oder das brutale Ende des Stücks sein. Das bleibt offen und geht unter im jubelnden Applaus des Publikums, das es nicht länger auf den Stühlen hält.

Ein wunderbar gegensätzlicher Tanzabend geht zu Ende, dessen Bilder noch lange haften bleiben. Am 25. Mai wird die Cooperativa Maura Morales den zahlreichen Facetten ihrer Kreativität eine weitere hinzufügen. Dann widmet sich das Theater Münster Franz Kafkas Verwandlung in der Choreografie von Maura Morales zur Musik von Michio Woirgardt.

Michael S. Zerban