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Viel Jauchzen, wenig Frohlocken

JAUCHZET, FROHLOCKET!
(Diverse Komponisten)

Besuch am
4. Dezember 2021
(Premiere)

 

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Kleines Haus

Jauchzet, Frohlocket!: Es mag sein, dass die festliche Freudenstimmung, die Johann Sebastian Bach im Eingangschor seines so genannten Weihnachts-Oratoriums, verbreiten will, in diesen Wochen nicht so recht aufkommen will. Aber waren die Verhältnisse zu Bachs Zeiten denn besser? Der berühmte Chorsatz gaukelt den Gläubigen schließlich kein Paradies auf Erden vor, sondern ist als Aufforderung zu verstehen, den Ist-Zustand der Welt wenigstens vorübergehend zu vergessen und stärkende Hoffnung aus der Geburt des Erlösers schöpfen zu können.

Und das mit den Möglichkeiten genialer Musik. Doch bereits die musikalische Umsetzung der mehr als dreistündigen, um Bachs Oratorium kreisenden Kreation, die Intendant Michael Schulz für das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier zusammengemischt hat, gibt wenig Anlass zum Frohlocken. Schulz reichen selbst die nachdenklichen, alles andere als euphorischen Teile des Bach-Oratoriums nicht, um zu zeigen, dass auf dieser Welt für frohes „Jauchzen“ kein Platz ist.

Dafür häuft er diverse Beiträge aus Oper, Song und Schauspiel zu einem dramaturgisch überfrachteten und aus dem Ruder laufenden Panoptikum pessimistischer Düsternis zusammen, das jeder Karfreitags-Besinnung zur Ehre reichte. Die Suche nach der Herberge in einer harten Welt setzt Schulz in Beziehung zu einer Flüchtlings-Familie der heutigen Zeit. Das liegt zwar nahe. Aber dabei begnügt er sich nicht mit dem Schicksal und den Lebensumständen der Heiligen Familie, sondern verkopft den Abend mit grundsätzlichen religiösen Fragen, die einer theatralischen Umsetzung im Wege stehen. „Woran glauben wir?“ – „Wenn es einen Messias gäbe, wie sähe er aus?“ – „Was kann uns erlösen?“ Fragen, die Schulz an 80 Gelsenkirchener Bürger aller Alters- und Bildungsschichten stellte und als Videosequenz einstreut. Interessante Antworten sind da zu hören, die auf der Bühne jedoch nur zu einem überladenen Spektakel von verwirrender Unverbindlichkeit führen.

Um die Schlechtigkeit der vom Teufel versuchten Welt drastisch vor Augen und Ohren zu führen, startet der Abend mit einem rhythmisch und thematisch originellen, in bayerischem Dialekt gefärbten Ausschnitt aus Carl Orffs Weihnachtsspiel Ludus de Nato Infante Mirificus, Wundersames Spiel von der Geburt des Kindes, das durchaus eine separate Wiederentdeckung verdiente. Vier Hexen beschließen hier, die Geburt des Jesuskinds zu verhindern, was ihnen natürlich nicht gelingt. Der Kern der folgenden, an eine Best-of-Folge aus den sechs Bach-Kantaten geknüpften Weihnachtsgeschichte wird unterbrochen durch zwei Lieder von Hanns Eisler und Bertolt Brecht, den musikalisch ergreifenden Chorsatz The Deer’s Cry von Arvo Pärt und zwei skurrilen Szenen von Dario Fo zum machthungrigen Papst Bonifazius VIII und zum Kindermord von Bethlehem. Jedes einzelne Stück für sich ausdrucksstark, aber zu schade, um damit nur die Hoffnungsstärke der Bachschen Musik abschwächen zu wollen.

Szenisch gehören allerdings die Fo-Episoden mit Hilfe der von Martina Feldmann und Bodo Schulte angefertigten und geführten Puppen zu den überzeugendsten Beiträgen der verworrenen Revue. Ebenso der groteske Auftritt des König Herodes sowie eine kleine Mädchenpuppe, die zu den eindringlichen Klängen von Arvo Pärt am Ende des ersten Teils leblos in der Position des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi auf der Bühne zurückbleibt.

Eher ungewollt trägt auch die musikalische Ausführung zu einer Entwertung der Musik Bachs bei. Sowohl die Chöre als auch die meisten Solo-Arien hält Kapellmeister Alexander Eberle zu einem rauen, dicklichen Klang an, der weit hinter den Möglichkeiten barocker Aufführungspraktiken bleibt, wie sie mittlerweile auch von nichtspezialisierten städtischen Orchestern geleistet werden können. Etliche Wackelkontakte zwischen dem Opernchor des Musiktheaters im Revier und der Neuen Philharmonie Westfalen sorgen für weiteres Ungemach. Immerhin verbreiten die Trompeten ein wenig festlichen Glanz.

Fazit: Viel Jauchzen und wenig Frohlocken für ein missglücktes Projekt, das erneut beweist, wie schwierig es ist, ein Oratorium sinnvoll szenisch zu kommentieren.

Pedro Obiera