O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Erschütternde Sachlichkeit

DIE ERMITTLUNG
(Peter Weiss)

Besuch am
9. Oktober 2024
(Premiere)

 

Triastheater im Justizzentrum Gelsenkirchen

Nachdem Autor Peter Weiss den ersten Auschwitz-Prozess am Frankfurter Landgericht von 1963 bis 1965 besucht hatte, befand er, das Grauen des Massenmordes im Konzentrationslager Auschwitz müsse künstlerisch aufgearbeitet werden. Nach den Gerichtsprotokollen von Bernd Naumann verfasste er das Stück Die Ermittlung. Es wurde 1965 in einer Ring-Uraufführung an 15 west- und ostdeutschen Theatern sowie der Royal Shakespeare Company in London gezeigt und löste in Deutschland die Diskussion um die „zweite Schuld“ aus, also die unterbliebene Strafverfolgung von NS-Verbrechern. Bis dahin war in der jungen Republik Verdrängung Trumpf. Man hatte, wie Ralph Giordano es in seinem Buch Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein auf den Punkt bringt, „den großen Frieden mit den Tätern“ geschlossen. Damit war nun Schluss.

Heute wird Die Ermittlung immer wieder aufgeführt, oft genug an ungewöhnlichen Spielorten bis hin zu Lesungen zu Gedenkveranstaltungen und in Landesparlamenten. Weiss lässt in denkbar nüchterner Weise, was heute dokumentarisches Theater genannt wird, anonymisierte Zeugen, die namentlich benannten Angeklagten, einen Staatsanwalt und einen Richter auftreten, die die Erinnerungen an die Geschehnisse in Auschwitz wach werden lassen. Als Ulrich Penquitt, Künstlerischer Leiter des Triastheater in Gelsenkirchen, auf die Idee kommt, das Stück an seinem Heimatort aufzuführen, um auf 60 Jahre Auschwitz-Prozess hinzuweisen, will er den Regisseur Jens Dornheim mit der Inszenierung beauftragen. Der lehnt zunächst ab, weil er sich das Stück nicht auf einer Bühne vorstellen kann. Und in der Originallänge von vier Stunden schon gar nicht. Dann hat Dornheim eine Idee. In gekürzter Form in einem richtigen Gerichtssaal müsste es gehen. Penquitt ist einverstanden und wendet sich an Mathias Kirsten, Leiter des Gelsenkirchener Justizzentrums. Der ist Feuer und Flamme, und so bleibt es nicht bei dem Theaterstück. Auschwitz vor Gericht – 60 Jahre Frankfurter Auschwitzprozess 1963 – 1965 heißt das Projekt, bei dem das Stück von Vorträgen, Film, Lesung, Konzert und Ausstellung umspielt wird. So etwas nennt man wohl eine gelungene Kooperation.

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Der Schöffensaal im zweiten Obergeschoss des Justizzentrums könnte trotz hochwertiger Ausstattung nüchterner kaum sein. Stäbchenparkett, auf dem in U-Form zweckmäßige Bänke und Stühle aufgestellt sind, ein überdimensionaler Monitor hinter der Richterbank. Einfarbige, schmucklose Wände. Das muss reichen, um eine Gerichtsverhandlung über die Bühne zu bringen. Ja, Theater gebe es auch bei Gericht genug, scherzt Kirsten, aber jetzt wird die Bühne für die Vergangenheit eröffnet. Am Fußende des Saals sind zu diesem Zweck vielleicht 40 Stühle aufgestellt. Angelika Heid-Schilling hat, der Idee der Entindividualisierung des Autors folgend, die Darsteller in unifarbene Overalls gesteckt. Schwarz für die Justiz, ein ironisches Weiß für die Angeklagten und lehmfarben sind die Kostüme der Zeugen. Nichts soll hier vom Wort ablenken, hat Weiss verlangt. Auch Danny-Tristan Bombosch lässt seine weniger als minimalistische Musik lediglich zu den Szenenwechseln erklingen.

Dornheim hat die ursprünglich vierstündige Aufführung um die Hälfte gekürzt, ohne dass der Besucher auch nur eine Minute vermisst. Im Gegenteil ist man auch nach den zwei Stunden denkbar erschöpft, die Seele atmet schwer, bleischwer liegt das Gehörte in den Hirnwindungen. Aber bis dahin ist noch ein langer Weg. Der Regisseur hat die Physiognomien seines ungewöhnlich großen Ensembles filmreif besetzt. Hans Feind sieht man in der Gestalt des Oswald Kaduk die Niedertracht ins Gesicht geschrieben. In Königshütte geboren, erlernte er das Metzgerhandwerk und landete 1941 als Blockführer in Auschwitz. Frieder Kornfeld ist Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten, der angeblich nicht einmal im Lager war. Kornfeld gelingt es vorzüglich, sich in Widersprüche zu verwickeln und dabei lächerlich zu wirken. Unterscharführer Stark hat die Führerschule durchlaufen. „Jedes dritte Wort in unserer Schulzeit handelte von denen, die an allem schuld waren und die ausgemerzt werden mussten“, weiß „Führertyp“ Julian Wangemann in der Rolle zu berichten, um seine unrühmliche Rolle zu rechtfertigen. Thomas Grohe hat zwar rein äußerlich keine Ähnlichkeit mit dem echten Wilhelm Friedrich Boger, weiß aber die Foltermethoden des SS-Oberscharführers und Leiters der Politischen Abteilung, deren Instrument sogar seinen Namen trug, ebenso schwächlich zu leugnen wie der Mann, der schließlich in der lebenslangen Haft starb. Und dann ist da noch Apotheker Dr. Capesius, der Ovomaltine nicht von Zyklon B unterscheiden kann. Josh Klein spielt ihn als leicht durchschaubaren Lügner, der sich ebenso wie die anderen immer wieder im Lügengespinst selbst entlarvt. Dirk Rützel spielt den Verteidiger Hermann Stölting so gut, dass er einem in seiner Arroganz lieber nicht im richtigen Leben begegnen sollte.

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Richter Hans Hofmeyer bekommt hier eher die Rolle des Stichwortgebers zugewiesen. Das löst Harald Goldau souverän. Als Staatsanwalt agiert Alexander Welp in seinen Ausbrüchen, wenn ihm die Lügen und Ausflüchte der Angeklagten zu viel werden, etwas über. Aber recht hat er ja. Sage und schreibe vierzehn Zeugen lässt Dornheim, teils in Mehrfachrollen auftreten. Und sie alle sind großartig. Beispielhaft sei Ulrich Penquitt erwähnt, der schon fast zombiehaft auftritt, oder Katina Kamke, die ihre schrecklichen Erinnerungen mit versteinerter Miene erzählt. Frauke Ersfeld bleiben über weite Strecken gekonnt die Worte im Halse stecken. Ungeheuerlich sind immer wieder die Zahlen, die zum Beispiel Katharina Kleinekämper, Ulrike Brockerhoff oder Christian Becker in den Raum stellen. Immer wieder geht es um abertausende von Opfern. Nein, das Grauen findet in den Zahlen keine Erklärung, nichts Nachvollziehbares. Stefan Wangemann und Ralf Amberge berichten über Phenol-Injektionen, unbarmherzig, kühl, „sachlich“; es ist wenig bekannt, wie viele Menschen durch das Einspritzen des Gifts zu Tode kamen.

Elf Gesänge umfasst das Oratorium von Weiss, deren Titel auf dem Monitor angezeigt werden, während die Zeugen in der Mitte des Raums stehen, als seien sie abermals angeklagt, während die Angeklagten sich immerhin von ihren Stühlen erheben müssen, wenn sie angesprochen werden. Dornheim ist hier eine Inszenierung gelungen, die wesentliche Botschaften Weiss‘ nicht außer Acht lässt wie den Gedanken, dass es bei den Angeklagten in den seltensten Fällen auch nur annähernd um Gefühle ging, sondern allein die Ökonomie zählte, oder auch das Bewusstsein, dass ein jeder im Lagerleben in die Rolle des anderen hätte schlüpfen können, wäre er nur bei seiner Ankunft auf die „richtige“ Seite geraten. So viel Einsicht schafft mehr Glaubwürdigkeit als alle „Nie-wieder“-Rufe der Gegenwart.

Das Publikum zeigt sich mit außerordentlich langem Applaus begeistert. Aber das Beste an diesem Abend ist wohl, dass in den Köpfen Vibrationen entstanden sind, die noch lange nachhallen werden.

Michael S. Zerban