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Wer gibt, wird glücklich

AVENUE Q
(Robert Lopez)

Gesehen am
23. Mai 2021
(Premiere/Stream)

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Musicals werden gern als amerikanische Nachfolger der Operette bezeichnet. Wer die Kommerzialisierung des Musical-Sektors verfolgt hat, wird das vehement bestreiten. Im neuen Jahrtausend verliert das Musical auf der ganzen Linie. Das bekamen in jüngster Vergangenheit auch die kommerziellen Veranstalter zu spüren. Die ewig gleiche Machart und Eintrittspreise, die in den Himmel stiegen, haben dafür gesorgt, dass zahlreiche Musical-Standorte schließen mussten. Avenue Q ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Niedergang eines Genres begonnen hat, das sich nicht erneuern will. 2003 feierte das Stück seine Uraufführung im Vineyard Theatre am off-Broadway. Eine Neuheit bot es insofern, als hier Puppen die Hauptrollen spielten und die Sprache keine Rücksicht auf die Regeln des guten Geschmacks nahm. Die Spielzeiten wurden verlängert, und schließlich schaffte es Avenue Q ein halbes Jahr später an den Broadway in das Golden Theatre. Dort hielt es sich bis 2009, ehe es, wie üblich, nach Europa durchgereicht wurde.

Robert Lopez und Jeff Marx schrieben Musik und Liedtexte, das Buch verfasste Jeff Whitty. Wahrlich keine Meisterleistung. Die deutsche Fassung von Dominik Flaschka und Roman Riklin schafft keine Verbesserung, sondern sorgt mit ihrer Fäkalsprache eher für schenkelklopfenden Klamauk eines Kegelclubs, der die dreizehn Paletten Dosenbier vor dem Besuch der Aufführung noch nicht ganz verbraucht hat. Die Geschichte ist eine einzige, abgenutzte Schablone mit der Botschaft: Wer gibt, wird glücklich. Princeton kommt nach erfolgreich abgeschlossenem Studium – in Amerika ist ein Bachelor tatsächlich schon ein abgeschlossenes Studium, früher wurden Menschen dieses Bildungsstands in Deutschland als Studienabbrecher bezeichnet – in eine fiktive Straße in New York, um sein Glück zu finden. Ein offenbar heruntergekommenes Viertel, in dem die Mieten billig und die Menschen erfolglos sind. Hier werden die Menschen vorgestellt. Statt Charaktere gibt es Stereotypen, die Liebesgeschichte von Princeton und Kate Monster ist vorhersehbar. Dazwischen gibt es politische Korrektheit bis zum Erbrechen.

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Im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen hat man neue Fördergelder akquirieren können, und seitdem gibt es dort auch Puppentheater für Erwachsene. Anstatt eigene Stücke zu entwickeln, greift man auf Avenue Q zurück, vielleicht, weil die Lizenzen billiger sind als die Honorare für einheimische Kräfte. Carsten Kirchmeier hat die Regie übernommen. Seine beste Idee dabei war wohl, Beata Kornatowska für die Ausstattung zu verpflichten. Denn ihr Bühnenbild einer Straßenszene in New York ist theatralisch dicht, bietet zahlreiche Möglichkeiten für Auf- und Abgänge, auch wenn diese nicht immer folgerichtig genutzt werden, und erinnert an so manche Schmuddelecke in New York. Die Puppen hat Birger Laube den Original-Figuren von Rick Lyons nachempfunden, um die Ähnlichkeiten zu Muppet Show und Sesamstraße nicht zu verlieren. Patrick Fuchs setzt die Szene in adäquates Licht ohne große Überraschungen. Auf Projektionen wird verzichtet.

In den ersten zehn Minuten ist von Kotze die Rede. Später wird kaum eine Zote ausgelassen, und wenn die Lehrerin Semmelmöse heißt, braucht man schon den speziellen Humor eines männlich besetzten Stammtischs, um das lustig zu finden. Einer der größten Erfolgsschlager des Musicals heißt tatsächlich Das Internet ist für Pornos. Kirchmeier lebt das mit einer gewissen Lust aus, was wahrscheinlich gar nicht anders möglich ist, wenn man eine solche Aufgabe übernimmt. Und an dieser Stelle sollte man den Besuch des Streams eigentlich abbrechen. Weil man sich weder Kopulationsszene der Puppen als auch die Onanieszene des Hausmeisters wirklich gönnen muss. Und schließlich kann man auch gut auf Belehrungen zur politischen Korrektheit in Bezug auf Rassismus verzichten.

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Was einen letztlich bei der zweistündigen Übertragung am Monitor hält, ist die durchgängig wunderbare Leistung der Darsteller. Einen albernen Stoff so auf die Bühne zu bringen, dazu gehört schon einiges. Und die Darsteller sind hier bis zum Äußersten gefordert. Müssen sie doch nicht nur die eigentliche Leistung eines Musical-Darstellers abliefern, sondern auch noch die Puppen zum richtigen Einsatz bringen. Obwohl es mehr als eine Situation gibt, in der man sehr gern auf den Puppeneinsatz verzichtet hätte, um die Leistungen der Darsteller zu genießen, die sich ausschließlich auf die Puppenköpfe konzentrieren. Nicolai Schwab begeistert als Princeton und Rod. Charlotte Katzer hat Kate Monster und Lucy, die Schlampe, hervorragend im Griff. Sebastian Schiller und Lanie Sumalinog kommen ohne Puppen aus. Robin Reitsma sorgt dafür, dass der gealterte Macauly Culkin aus Kevin allein zu Haus, ein netter Regieeinfall, glaubwürdig auf die Bühne kommt. Zwei Stunden lang fragt man sich, ob es die Puppen braucht. Nein. Ersatzlos gestrichen gibt es keinen Ausfall. Die stimmliche Darbietung ist ohne jeden Zweifel, allerdings sind auch die Anforderungen auf dem niedrigen Niveau eines modernen Musicals. Hier sind die Stimmen so austauschbar wie die Komposition. Das schafft nun wirklich jeder, der eine Grundausbildung im Musical-Gesang absolviert hat. Bedauerlich, weil Schwab oder Katzer, aber auch all die anderen Mitwirkenden vermutlich das Zeug zu Größerem hätten.

Heribert Feckler hat die musikalische Leitung übernommen und meistert die niedrigen Anforderungen in aller Selbstverständlichkeit. Das gelingt vor allem deshalb, weil Dirk Lansing den Ton im Stream steuert. Kleinere Macken sind da ebenso hinzunehmen wie die ständigen Unschärfen im Bild. Dass das Theater die Namen der Kamera-Leute ebenso verschweigt wie den Verantwortlichen für die Bildregie, sagt einiges über die Einstellung des Theaters zum Stream aus. Und in der Tat wurde ja hier nur eine Bühnenaufführung abgefilmt. Das allerdings in überwiegend ordentlicher Weise.

Puppentheater 2021? Fehlanzeige. Gezeigt hat das Musiktheater im Revier heute Puppentheater vom Anfang des Jahrtausends. Wenn das alles ist, wofür es Steuergelder gibt, hat das Musiktheater im Revier ein gutes Geschäft gemacht.

Michael S. Zerban