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Flucht und Vertreibung

TAGEBUCH EINES VERSCHOLLENEN/BLODHOV
(Leoš Janáček, Karin Rehnqvist)

Gesehen am
10. Juni 2021
(Premiere/Stream)

 

Theater Freiburg

Vertreibung, Flucht, Verschleppung, Tod. Es sind die dunklen Seiten des menschlichen Lebens, die das Theater Freiburg in seiner neuesten, zusammen mit dem ebenfalls in Freiburg ansässigen Ensemble Recherche erstellten Video-Produktion derzeit ins Netz stellt. Im Mittelpunkt des anderthalbstündigen Programms steht die Uraufführung des Musiktheaters Blodhov der schwedischen Komponistin Karin Rehnqvist für eine Singstimme und Ensemble. Der Text stammt von der isländischen Schriftstellerin Ger∂ur Krístny, wobei es das Freiburger Theater dem Zuschauer nicht leicht macht, dem Vortrag folgen zu können. Eine Übersetzung kann zwar, wie auch alle weiteren Informationen zum Abend, recht umständlich heruntergeladen werden, hilft aber nur wenig weiter, wenn das Stück ohne Untertitel präsentiert wird.

So muss man dem 40-minütigen Monolog der Riesin Ger∂ur aus einer alten Sage der altnordischen Edda ohne tieferes Textverständnis folgen. Das ist gleich doppelt schade, da die schwedische Folk- und Jazzsängerin Lena Willemark, die seit vielen Jahren mit der Komponistin zusammenarbeitet, eine Performance von beeindruckender Intensität und gesangstechnischer Variabilität bietet.

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Zu erleben ist eine Selbstreflexion der Riesin, die von dem Gott Freyr auf dessen Pferd Blodhov entführt und neun Tage lang von dem Gott vergewaltigt wurde. Die Erlebnisse goss Ger∂ur Krístny in eine Textfolge von Klagen und Anklagen, die Lena Willemark mit vielen Fassetten zwischen Aufschrei, Stammeln und gebrochenen melodischen Fragmenten in allen Tonlagen, Stimmfarben und dynamischen Graden zum Ausdruck bringt. Dabei agiert sie allein auf einer schlichten Spielfläche in legerer Alltagskleidung, umringt von den Musikern des Ensembles Recherche. Besetzt mit vorwiegend tiefen Instrumenten und einem reich bestückten Schlagwerk. Die Kameraschwenks in das dunkel tönende Klangwerk des Ensembles ergänzen auf anderer Ebene die Performance der Solistin. Als Requisite dient einzig der Teil einer zerbrochenen Kette, mit der die geschundene Frau am Ende den ersten Schritt in die Freiheit signalisiert.

Diese Hoffnung sucht man in der Musik, zumindest bei der ersten Begegnung mit dem Stück, vergebens. Es verwundert nicht, dass sich die Musik beklemmend zäh ausbreitet. Mit vielen Pausen und dunklen, aus dem Nichts aufklingenden Tönen ohne nennenswerte Stimmungsaufheller. Ein in sich stimmiges, aber emotional nicht gerade aufmunterndes Psychogramm einer Frau in Extremsituationen. Dass das Werk bei einem im Umgang mit zeitgenössischer Musik so erfahrenen Ensemble wie dem Ensemble Recherche bestens aufgehoben ist, versteht sich von selbst.

Gegenüber diesem Einblick in die brutale Welt der altnordischen Edda nimmt sich Leoš Janáčeks Liederzyklus Tagebuch eines Verschollenen, mit dem der Abend eingeleitet wird, wie eine frohe Botschaft aus. Geboten wird eine Version für Solo-Sopran, Mezzosopran und drei Frauenstimmen mit Klavier, die angesichts des Originals für Tenor ein wenig gewöhnungsbedürftig ist. Es geht schließlich um die Vertreibung eines Menschen aus der Sicht eines Mannes. Nämlich eines wohlhabenden Bauernsohns, der Hof und Dorf verlässt, um sich einer Zwangsheirat entziehen und ein ungestörtes Leben mit seiner Geliebten führen zu können.

Die 22 Gesänge bieten ein vielfältiges, sich ständig wandelndes Stimmungsbild des jungen Mannes, das auch viel von der Gefühlslage des verheirateten, mittlerweile reifen Komponisten angesichts seiner Liebschaft mit Kamilla Stösslová verrät. Auf eine szenische Umsetzung wird verzichtet, was auch nicht unbedingt nötig ist. Im Mittelpunkt der Interpretation stehen die Sopranistin Irina Jae Eun Park und der Pianist Uram Kim, die vor allem den expressiven Gehalt der Gesänge betonen. Und das mit großem stimmlichem und musikalischem Einsatz. Mezzosopranistin Inga Schäfer und die drei Damen des Chores Christiane Klier, Kyoung-Eun Lee und Charis Peden runden die eindrucksvolle Aufführung adäquat ab.

Ein ambitioniertes, exzellent ausgeführtes Programm, das noch nachhaltiger wirken könnte, wenn man dem Zuschauer durch Untertitel das Textverständnis erleichterte.

Pedro Obiera