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Auf den Flügeln des Gesangs

LIEDERABEND IM STREAM
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
12. März 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Bockenheimer Depot, Frankfurt

Normalerweise konzentrieren sich junge Sänger nach Abschluss ihres Studiums ganz auf die Karriere in der Oper. Man beginnt in einem Opernstudio, darf die ersten kleinen Wurzenrollen singen und hofft auf Entdeckung und größere Rollen, vielleicht auch auf ein Engagement an einem größeren Haus. Der Liedgesang spielt in dieser Phase meist nur eine untergeordnete Rolle. Erst, wenn man musikalisch gesettelt und die Stimme erfahren und gereift ist, wenden sich die Künstler dann auch dieser Sparte zu und entdecken dann den einen oder anderen Liedkomponisten für sich. Ein Dietrich Fischer-Dieskau, der noch als Student mit dreiundzwanzig Jahren Schuberts Winterreise fürs Radio aufnahm, ist heute eher undenkbar. Und doch gibt es immer wieder junge Sänger, die dieses besondere Genre des Gesangs früh für sich entdecken und gerade aufgrund ihrer jugendlichen Frische und Unbekümmertheit aufhorchen lassen.

Der junge Bariton Konstantin Krimmel, Jahrgang 1993, gehört ganz sicher zu dieser Generation. Er startete seine musikalische Laufbahn bei den St.-Georgs-Chorknaben in Ulm und begann 2014 sein Gesangsstudium bei Teru Yoshihara an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, das er 2020 mit dem Master abschloss. Meisterkurse wie beispielsweise bei Brigitte Fassbaender ergänzten seine Ausbildung. Erste Bühnenerfahrungen als Solist sammelte er 2016 am Wilhelma-Theater Stuttgart als Antonio in Le nozze di Figaro und 2017 am Theater Heilbronn als Zoroastro in Georg Friedrich Händels Oper Orlando. Krimmel ist Gewinner und Publikumspreisträger zahlreicher Wettbewerbe. Am Hessischen Staatstheater Wiesbaden sang er in der vergangenen Spielzeit den Jesus in einer szenischen Aufführung von Bachs Matthäus-Passion und kehrte kürzlich als Figaro in Le nozze di Figaro dorthin zurück. Der noch am Anfang seiner Karriere stehende junge Bariton stellt sich nun im Stream mit einem außergewöhnlichen Liedprogramm einem breiteren Publikum vor. Die Spielstätte dafür ist grandios, das über 100 Jahre alte Bockenheimer Depot, eine dreischiffige Halle aus unverputztem, gelbem Ziegelmauerwerk mit roten Gesimsen und Zierbändern, mit einer hölzernen Dachkonstruktion aus halbkreisförmigen Bogenbindern, die auf den französischen Renaissance-Baumeister Philibert Delorme zurückgeht. In dieser großen Halle, die zur Oper Frankfurt gehört, begleitet ihn der Pianist Daniel Heide auf einem Steinway-Flügel.

 

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Krimmel eröffnet den Liederabend mit Franz Schuberts Der Wanderer. Und nicht nur optisch beeindruckt der junge Sänger, mit Vollbart und das lange Haar zu einem Hauptzopf geflochten, mit Weste und offenem Hemd lässig und locker gekleidet, aber mit ernstem Gesichtsausdruck und sichtbarer Körperspannung. Schon die ersten Töne lassen aufhorchen. Die Stimme klingt markant, aber trotzdem geschmeidig und ausdrucksstark. Und er kann sehr lyrisch und gefühlvoll singen wie in Schuberts An den Mond. Wenn man die Augen schließt und nur dem Gesang lauscht, kann man sich fast nicht vorstellen, dass hier ein junger Sänger steht, der gerade erst vor einem Jahr sein Studium beendet hat. Da sind viele Farben und Nuancen im Timbre, er verfügt über tenorale Höhen und eine sehr warme, schmeichelnde Mittellage. Und das Konstantin Krimmel ein intelligenter Sänger ist, das weiß man spätestens nach seiner kurzen Einführung des sechsliedrigen Zyklus An die ferne Geliebte von Ludwig van Beethoven. Mit wenigen, aber sehr verständlichen Sätzen erläutert er die Rezeptionsgeschichte des Zyklus, in dem die sechs Lieder ineinander übergehen und wie ein großes langes Lied gesungen werden.  Beethoven beendete den Zyklus im April 1816 und widmete ihn seinem langjährigen Gönner Fürst Joseph von Lobkowitz. Man vermutet, dass das Werk direkt im Auftrag des Fürsten entstand, und zwar zum Andenken an dessen Frau, Fürstin Maria Karoline von Schwarzenberg. Die Fürstin starb am 24. Januar 1816 in Prag im Alter von 40 Jahren, und dieser Zyklus ist eine Art „weltliches Requiem“. Krimmel singt den Zyklus mit sehr viel Gefühl und Betonung auf den Ausdruck der Gefühle. Nach dem kleinen Liederzyklus widmet sich Krimmel einem weiteren großen Komponisten, Franz Liszt. Des Tages laute Stimmen schweigen ist voller Melancholie, die gedämpfte Abendstimmung schwingt in Krimmels musikalischem Vortrag durch. Das anschließende Gebet mit Goethes Text Der du von dem Himmel bist ist ganz innig und gefühlvoll vorgetragen. Und automatisch kommt einem an dieser Stelle mit dieser Stimme ein anderes Gebet in den Sinn, das Krimmel sicher in nicht allzu ferner Zukunft singen kann und vielleicht wird: O du mein holder Abendstern, das Lied des Wolfram von Eschenbach aus Wagners Tannhäuser.

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Der zweite Teil des ohne Pause vorgetragenen Liederabends beginnt wieder mit einem sechsliedrigen Zyklus, dem House of Life des britischen Komponisten Ralph Vaughan Williams. Und erneut führt Krimmel sensibel und sehr reflektiert in diesen Zyklus ein, der wie ein Kreislauf die Jahreszeiten der Liebe in all ihren Facetten darstellt. Und dieser eher nicht so bekannte Liedzyklus von 1903 ist auch eine musikalische Entdeckung, hat er doch sowohl spätromantische als auch neuzeitliche Anteile. Das fünfte Lied, Death-in-Love, ist musikalisch sicher der Höhepunkt des gesamten Zyklus, hier könnte er auch enden. Doch Vaughan Williams gibt ein sechstes Lied quasi als Liebeszugabe drein, Love’s last gift.

Den Schluss seines Vortrages widmet Krimmel erneut Franz Liszt. Mit dem Gebet In Stunden der Entmutigung und dem Hymnus Freudvoll und leidvoll von Johann Wolfgang von Goethe zeigt Krimmel noch einmal seine außerordentliche Reife im Vortrag, im Ausdruck und vor allem auch in der Textverständlichkeit.

Nach 75 Minuten ohne Pause geht ein großartiges Debüt als Liedsänger zu Ende, das einem angesichts des Alters und der bisherigen Bühnenerfahrung des Sängers den allerhöchsten Respekt abfordert. Über 1.100 Zuschauer haben online bisher diesen Auftritt verfolgt. Und auch dem Pianisten Daniel Heide gebührt ein großes Lob, denn durch seine sehr gefühlvolle und sensible Begleitung wird dieser erstaunende Gesamteindruck erst möglich. Dazu kommt eine sehr intelligente Kameraführung, die das Duo aus unterschiedlichen Blickwinkeln einschließlich Vogelperspektive zeigt, was insbesondere die besondere Spielstätte hervorhebt und diesen Stream auch optisch zu einem Erlebnis macht.

Man kann nur hoffen, dass dieser Sänger mit seinem großen Talent und der wunderbaren Stimme sorgfältig umgeht, dann wird man noch viele große Abende von ihm erwarten dürfen. Wer Konstantin Krimmels Liederabend verpasst hat: Hier kann man ihn noch sehen. Und wer mehr von Krimmel hören möchte, dem sei seine erste CD Saga empfohlen, die er zusammen mit der Pianistin Doriana Tchakarova 2019 eingespielt hat, mit Balladen von Carl Loewe, Adolf Jensen, Franz Schubert und Robert Schumann.

Andreas H. Hölscher