O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Die hier gezeigten Bilder sind während der Proben entstanden - Foto © Salar Baygan

Aktuelle Aufführungen

Sturm nach der Stille

ALLE SINNE FÜR DIE SIEBTE
(Ludwig van Beethoven)

Besuch am
2. September 2020
(Premiere)

 

Junge Deutsche Philharmonie, Frankfurt Lab, Frankfurt

Seit zehn Jahren ist das Frankfurt Lab Produktions- und Aufführungsort für zeitgenössische darstellende Kunst und Musik im Rhein-Main-Gebiet. Fest in die so genannte Freie Szene eingebettet, bietet es Spielflächen in der Größenordnung kleiner und großer Turnhallen, verbunden mit einem Barbetrieb, der derzeit stillgelegt ist.

Die Junge Deutsche Philharmonie, ein Auswahlorchester, das nach eigenen Angaben die „besten Studierenden deutschsprachiger Musikhochschulen zwischen 18 und 28 Jahren“ beschäftigt, hat ein besonderes Programm für das Frankfurt Lab und die nachfolgende Tournee entwickelt. Unter der künstlerischen Leitung von Daniel Finkernagel ist ein genreübergreifendes Gesamtkunstwerk entstanden, das sich über etwas mehr als eine Stunde erstreckt. 70 Minuten sind wohl derzeit das neue Zeitmaß für Aufführungen.

Der Saal ist schwarz ausgeschlagen. An den Kopfseiten sind zwei großformatige Leinwände angebracht. Die Stühle sind mit weitem Abstand in Blickrichtung auf den Eingang aufgestellt, der auf der Längsseite liegt. Davor stehen drei Plexiglas-Wände im Halbkreis. Die Angst, man werde nun Musik hinter Plexiglas hören, wird sich bei Beginn der Aufführung in Luft auflösen. Am Eingang stehen zwei jugendliche Ordnungskräfte, die es leider versäumen, darauf hinzuweisen, den orangefarbenen Zettel, der auf den Stühlen abgelegt ist, vor der Aufführung lesen. Denn dort steht im Kleingedruckten, so dass man sich die Lektüre für später aufhebt, was einen an diesem Abend erwartet und wozu die rote Kapsel mit den Ohrstöpseln dient, die ebenfalls auf dem Stuhl platziert ist. Da hat sich jemand viel Gedanken gemacht, deren Ergebnis nun verpufft.

Foto © Salar Baygan

Dass die Junge Deutsche Philharmonie bei ihrem Stück Alle Sinne für die Siebte der Siebten Symphonie von Ludwig van Beethoven eine ebenfalls viersätzige Symphonie der Stille voranstelle, in der sie sich mit anderen Kunstrichtungen auseinandersetzt, hätte man bei rechtzeitiger Lektüre erfahren. Nun, so verfolgt man das Geschehen in der Stille etwas verwundert. Unter Leitung von Patriks Zvaigzne üben sich einige der Musiker im „Action-Painting“ an den Plexiglasscheiben, die anschließend im Hintergrund verschwinden und so ein Bühnenbild andeuten, das in seiner Wildheit immerhin gut zur Musik passen wird.

Im zweiten „Satz“ haben Bénédicte Billiet und Sophia Otto für die jungen Instrumentalisten eine Choreografie erarbeitet. Ein interessantes Erlebnis, das in seiner Stille ein wenig anachronistisch wirkt. Hat sich doch der zeitgenössische Tanz in den vergangenen Jahren zumeist wieder mit der Musik versöhnt, die hier ausbleibt. Auch der dritte Satz – Physical Theatre, das Lucy Flournoy mit den experimentierfreudigen Musikern erarbeitet hat – muss nahezu geräuschlos auskommen, wenn ein Ballspiel pantomimisch absolviert wird. Ebenfalls tonlos wird als vierter Satz ein Video von Binha Haase gezeigt, den man aber wohl getrost eher als in die Länge gezogenes Intermezzo begreifen darf. So haben die Musiker nach den Anstrengungen der ersten Hälfte, die sie sehr ambitioniert absolviert haben, noch eine kurze Atempause.

Endlich wird ein kleines Podest aus den Stuhlreihen in den Bühnenraum gezogen. Zwei weitere Podeste werden in den Raum gebracht. Dann kann es ja nicht mehr lange dauern, bis die Stühle und Notenpulte für die Musiker hereingetragen werden. Nichts dergleichen geschieht. Denn das größte Problem, das Orchester derzeit haben, ist der Platz. Warum also raumfüllende Möbel aufstellen, wenn man so eine Symphonie auch im Stehen spielen kann? Lediglich die beiden Cellistinnen bringen einen Stuhl mit. Dirigent Joolz Gale stellt sich auf das Podest und öffnet die Schleusen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, zieht das etwa 30-köpfige Orchester die rund 100 Besucher in den Rausch der 1813 uraufgeführten Musik, von der Clara Schumanns Vater Friedrich Wieck annahm, dass diese Symphonie nur „im unglücklichen – im trunkenen Zustand“ komponiert sein könne. Und Beethovens Kollege Carl Maria von Weber erklärte ihn gleich „reif fürs Irrenhaus“. Gale setzt alles daran, diese Musik genauso umzusetzen, und die jungen Leute vor ihm haben daran sichtlich Spaß. Weil hier auswendig gespielt wird, können auch die Pausen auf ein Minimum reduziert werden. Und so geht es schier atemlos durch die Nacht.

Nach dem virtuosen wilden Ritt – hervorragend ausbalanciert und exakt passend für die Akustik des Raums – sind Musiker und Dirigent erschöpft, und das Publikum ist begeistert. Langanhaltender Applaus ist das Dankeschön an die jungen Leute, die hier nicht irgendein Orchesterstück absolviert, sondern mit Herz und Verstand gezeigt haben, wie heutig Ludwig van Beethoven klingen kann.

Michael S. Zerban