O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Einstige Gassenhauer im jazzigen Gewand

WHEN I SEE TWENTY-THREE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
6. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Zollverein Essen, Halle 5

Die Zeche Zollverein, heute UNESCO-Welterbe, hat seit ihrer Gründung anno 1834 eine lange, bewegte Geschichte hinter sich, bis sie 1986 als Steinkohlebergwerk stillgelegt wurde. Unter anderem erlebte sie im Jahr 1923 den Einmarsch von französischen und belgischen Truppen im Zusammenhang mit dem Konflikt um die deutschen Reparationszahlungen, die so genannte Ruhrbesetzung. Auf diesem Jahr liegt ein Schwerpunkt des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr. Folgerichtig gibt es an diesem Ort Veranstaltungen. Eine von ihnen ist im Rahmen der Reihe „Jazz Line“ der Auftritt des Frank-Chastenier-Trios. Auch diese Band trägt dem ereignisreichen Jahr Rechnung, indem sie ausschließlich Musik präsentiert, die vor 100 Jahren öffentlich gemacht wurde.

Folgerichtig ist das Programm des Abends, der wie im Flug vergeht, auf den Namen When I see twenty-three getauft. Wer sich aber im Vorfeld vorgestellt haben sollte, es würde das ganze Spektrum des damaligen Jazz unter die Lupe genommen, ist falsch gewickelt. Ist doch eigentlich ganz klar: Der Jazz gehört zur Kategorie der Unterhaltungsmusik, kurz U-Musik. Und dieses Genre beinhaltet bekanntlich sehr viel mehr. Also hat der Bandleader ein Programm zusammengestellt, das auch andere Stücke jenseits der improvisierten Musik berücksichtigt. Ihm dürfte die Auswahl nicht schwer gefallen sein, beschäftigt er sich doch seit geraumer Zeit, unter anderem auch durch die Zusammenarbeit mit dem Trompeter und Flügelhornisten Till Brönner, mit der Musik der 1920-er und 1930-er Jahre, vornehmlich solcher aus Deutschland. Die Operette stand seinerzeit ganz hoch im Kurs. Also ist Franz Lehárs Lied Immer nur lächeln aus Die gelbe Jacke mit dabei, das später auch in Das Land des Lächelns vorkommt – damals ein Gassenhauer und auch heute noch bekannt. Der Meister der leichten Muse, Walter Kollo, darf selbstredend mit dem Schlager Warte, warte nur ein Weilchen aus seiner Operette Marietta ebenfalls nicht fehlen. Weiterer Operetten-König war Robert Stolz. Also kommt sein Mädi, mein kleines Mädi aus Mädi auf die Bühne. Dann grüßt aus Argentinien der Tango Mano a Mano von Carlos Gardel. Aus Frankreich kommt Ma Chanson aus der Feder von René de Buxeuil. Auch die USA sind vertreten. Diesen unterhaltsamen Querschnitt präsentiert das Trio äußerst kurzweilig.

Exzellent verjazzt kommen die Titel daher. Vordergründig sind es tradierte Muster nach klassischer Art eines Klaviertrios mit Klavier solo und Kontrabass nebst Schlagzeug als Rhythmusgruppe. Doch es werden nicht simpel Themen im Original vorgestellt, über die improvisiert wird. Vielmehr lässt man sich Zeit, Melodien zu entwickeln beziehungsweise aufzubauen, bis sie deutlich, aber auch verfremdet hörbar sind. Ganz leise, wie aus dem Nichts kommend, wird etwa Immer nur lächeln aufgebaut. Der Tango-Rhythmus ist eher latent vernehmbar. Charleston von James B. Johnson wird derart langsam gespielt, als nähme man ihn nicht bierernst. Tonale Strukturen und Harmonien werden diatonisch gerückt oder lösen sich auf, einhergehend mit sich ändernden dynamischen Prozessen. Spannung und Entspannung gehen Hand in Hand. Viel Drive und Swing wird in den Standard I Cried for You von Gus Arnheim und Abe Lyman gelegt. Alberta Hunters und Lovie Austins Down Hearted Blues ist nur anfangs bekannt bluesfarben, nimmt aber im weiteren Verlauf deutliche Züge eines Rock-Stücks an. Zu guter Letzt fetzt es richtig bei King Porter Stomp von Jelly Roll Morton.

Foto © Peter Wieler

Zuständig dafür sind in der Jazzszene drei hochangesehene Musiker, die vorzüglich miteinander harmonieren. Frank Chastenier, einstiges Mitglied der WDR Big Band, wird seinem erstklassigen Ruf als Jazzpianist erster Güte in jeder Hinsicht voll gerecht. Dank seiner hohen Virtuosität und äußerst differenzierten Anschlagskultur gestaltet er die Stücke mit hochmusikalischen, großen Spannungsbögen außerordentlich packend. Christian von Kaphengst steht stoisch, als könne er kein Wässerchen trüben, am Kontrabass und ist für die kunstfertigen Bassfundamente zuständig. Seine ganz große Klasse demonstriert er während seines Intros zu oben erwähntem Blues, indem er hinsichtlich hochkarätiger Spieltechniken, Tongebung, Klanggestaltung und musikalischer Entwicklung keine Wünsche offenlässt. Last but not least ist es Hans Dekker, der seinem Schlagwerk dynamisch variable und zuverlässige, feinsinnige Rhythmen entlockt. Und als es um Bananen geht – bei Irving Cohns Yes, We Have No Bananas! – fasziniert der Schlagzeuger der WDR Big Band mit einem ausgiebigen, ungemein wirbelnden Solo.

Während des gesamten Konzerts zeigt sich das Publikum in der sehr gut besuchten Halle 5 begeistert und spendiert nach den zwölf präsentierten Nummern frenetischen, nicht enden wollenden Beifall. Man lässt sich nicht zweimal bitten und bietet noch eine Zugabe. Vor allem ist sie Chasteniers anwesender Frau gewidmet, als Dank dafür, dass sie es mit ihm nach 30 Jahren immer noch aushält. Demnach klingt der traumhaft schöne Vortrag von Lehárs Dein ist mein ganzes Herz wie eine Liebeserklärung. Wieder stammt der Richard-Tauber-Erfolg aus Das Land des Lächelns ursprünglich aus der Operette Die gelbe Jacke, in der das Lied Duft strömt aus deinem Haar und deine Haut ist wie Parfüm heißt.

Wie im Klassikleben üblich, bekommen die drei Vollblutmusiker zum Schluss je einen hübschen Blumenstrauß in die Hand gedrückt. Andere, szenekundige Veranstalter wissen aber auch, dass die Jazzer als Alternative auch nichts gegen einen edlen Tropfen einzuwenden haben.

Hartmut Sassenhausen