Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
UNSINNSTEXTE
(György Ligeti, György Kurtag)
Besuch am
15. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)
Noch eine Geburtstagsparty für György Ligeti? Bitte schön: Das Klavier-Festival Ruhr hat im Haus Fuhr in Essen-Werden solch ein weiteres Treffen zu Ehren dieses wichtigen österreichisch-ungarischen Komponisten, der am 28 Mai 100 Jahre alt geworden wäre, im Angebot. Aber Vorsicht: Unsinniges soll vonstattengehen. So wird der Termin zumindest im Programmbuch und Internet angekündigt. „Na, dann nichts wie hin“, sagen sich die neugierigen Musikfreunde und sind gespannt, was nun kommen wird.
Alfred Brendel ist da. Er ist mittlerweile 92 Jahre alt, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, dafür nach wie vor hellwach im Kopf. Seine großartige Laufbahn als Pianist hat er zwar im Jahr 2008 an den Nagel gehängt, ist aber immer noch auf Bühnen präsent. Als Literaturliebhaber liest er nämlich gerne vor und textet auch. Als er auf der Bühne am Rednertisch Platz nimmt, hat er alles andere im Sinn, als seriös-tiefgründige Dichtungen zu rezitieren. Ganz genau das Gegenteil ist der Fall. Er ist darauf erpicht, für die Nonsens-Poesie eine Lanze zu brechen. Es gibt solche Literatur zuhauf, die nichts anderes im Sinn hat als das Spiel. Das Wort Scherz wird in all seinen Formen groß geschrieben. Unsinn ist Selbstzweck.
Dazu gehören unter anderem Buchstabenzusammenstellungen ähnlich der von Kleinkindern als Vorstufe zur klar-verständlicher Artikulation, zum Beispiel: „Kroklokwafzi? Seṁemeṁi! / Seiokrontro – prafriplo: / Bifzi, bafzi; hulaleṁi: / quasti basti bo… / Lalu lalu lalu lalu la! – Absatz – Hontraruru miromente / zasku zes rü rü? / Entepente, leiolente / klekwapufzi lü? / Lalu lalu lalu lalu la! – Absatz – Simarar kos malzipempu / silzuzankunkrei (;)! / Marjomar dos: Quempu Lempu / Siri Suri Sei []! / Lalu lalu lalu lalu la!“ Es ist „Das große Lalula“ von Christian Morgenstern, das Brendel von den Lippen geht.
Noch ein ähnliches Beispiel für so ein vordergründig sinnloses Zeug, das Brendel von sich gibt? Sehr gerne. Hier ist Kurt Schwitters‘ „Kleines Gedicht für große Stotterer“: Ein Fischge, Fisch, ein Fefefefefischgerippe / Lag auf der auf, lag auf der Klippe. / Wie kam es, kam, wie kam, wie kam es / Dahin, dahin, dahin? – Absatz – Das Meer hat Meer, das Meer, das hat es / Dahin, dahin, dahingespület, / Da llllliegt es, liegt, da llllliegt, llliegt es / Sehr gut, sogar sehr gut! – Da kam ein Fisch, ein Fefefefefisch, ein Fefefefefefe-Fefefefefefe- / (schriller Pfiff) feFe feFe feFe feFefischer, / Der frischte, fischte frische Fische. / Der nahm es, nahm, der nahm, der nahm es / Hinweg, der nahm es weg. – Nun llllliegt die, liegt, nun llliegt die Klippe / Ganz o o o ohne Fischge Fischgerippe / Im weiten, weit, im We Weltenmeere / So nackt, so fufu furchtbar nackt.“
Außerdem schreibt Brendel selber solche Gedichte, etwa: „Nein / die Köchin war es nicht / auch der Gärtner / kann es nicht gewesen sein / noch weniger / denken wir an die Zofe / ganz zu schweigen von Griffith / dem Butler / obgleich dessen Gesicht / einen verkniffenen Zug aufweist / Keinesfalls wollen wir die Corgies verdächtigen / die / es läßt sich nicht leugnen / bereits mehrere Kinder und Halbwüchsige / auf beklagenswerte Weise verstümmelt haben / Selbst der Gutsverwalter / ein Zigeuner / weilte zur Tatzeit / meilenweit entfernt / im Wohnwagen seiner Familie / Vollends die Annahme / es möchte der Hausherr persönlich / in die Affäre verwickelt sein / dürfen wir / da ihre Lordschaft nur ein Bein haben / als Verleumdung zurückweisen / Ein Gedenkstein / wird im Gemüsegarten / an das traurige Ereignis erinnern.“
Foto © Peter Wieler
Auch die auf diesem Gebiet bekannten Poeten Charles Amberg, Hans Arp, Damil Charms, Welimir Chlebnikow, Ernst Jandl und Paul Scheebert brachten solche oder ähnliche Wortschöpfungen zu Papier, die der frühere Pianist mit im Gepäck hat. Man ergötzt sich an Brendels unsinniger Rezitationskunst, kann sich zwischendurch ein Grinsen nicht verkneifen und versteht, was Brendel zu Beginn des unterhaltsamen Abends nachvollziehbar betont: Sinn und Unsinn gehören zusammen. Die Gewöhnung an den Unsinn macht Sinn. „Laune hat Geist, Ordnung nicht“, fügt er hinzu.
Seriös geht es dagegen musikalisch vor, nach und zwischen den Lesungsblöcken zu. Selbstverständlich spielen mit dem ersten und als Zugabe dritten Stück aus der Musica Ricercata und sieben der 18 Etüden Kompositionen von dem Geburtstagskind Ligeti die Hauptrolle. Daneben ist sein Zeitgenosse, der noch lebende, 1926 geborene ungarisch-französische Komponist György Kurtág, mit dem viersätzigen Werk „Splitter“ – Originaltitel: Szálkák – aus dem Jahr 1978 vertreten. Verließ Ligeti 1956 nach dem Volksaufstand Ungarn nach Westeuropa, blieb dagegen Kurtág daheim und war in Budapest musikpädagogisch tätig. Als einziger Komponist, dessen Name international bemerkt wurde, verließ er während der gesamten kommunistischen Zeit bis auf zwei Ausnahmen Ungarn nicht. Ein Auslandsaufenthalt in Paris 1957/58 war durch die Ausstellung eines Reisepasses möglich. Außerdem lebte er 1971 aufgrund eines Künstlerstipendiums des DAAD – kurz für Deutscher Akademischer Austauschdienst – in West-Berlin. In dieser Zeit war er über sein Heimatland hinaus nur in kleinen Fachkreisen bekannt. Seinen internationalen Durchbruch schaffte er erst 1981 mit der Pariser Uraufführung von Poslanija pokojnoj R. V. Trusovoj – auf Deutsch: Botschaften der verstorbenen R.V Trusovoj – für Sopran und Kammerensemble. Der Eingangssatz von Kurtágs Splitter mit der Anweisung „Molto agitato“ ist identisch mit dem Präludium aus dem Klavierwerk Präludium und Choral in der Fassung aus dem Jahr 1961. Dieses pianistisch anspruchsvolle Opus 6d spiegelt seine Musiksprache der ausgesparten, konzentrierten Texturen wider. Mit nur wenigen Tönen schafft er es, einen ganzen Kosmos der menschlichen Existenz, der Verzweiflung wie auch der Hoffnung rein durch Musik auszudrücken. Bei der Präsentation der vier teils hoch anspruchsvollen Klavierstücke brilliert Fabian Müller mit einer exzellent virtuosen Akkuratesse. Dank seiner differenzierten Anschlagskultur und genauen Pedaltechnik bringt er ferner die den Etüden innewohnenden verschiedenen polystilistischen Kompositionstechniken des Komponisten sowie seinen kunstfertigen Umgang mit nur einem Ton bei der ersten Nummer und nur drei Tönen bei der dritten Nummer der Musica Ricercata deutlich zum Ausdruck.
Das entdeckungsfreudige Publikum zeigt sich begeistert von diesem außergewöhnlichen Programm und den beiden Künstlern. Zu guter Letzt begleiten stehende Ovationen Brendel beim Verlassen des Saals mitten durch das Auditorium in den rückwärtigen Raum.
Hartmut Sassenhausen