O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Jung

Aktuelle Aufführungen

Aktionismus und Mummenschanz

SIMON BOCCANEGRA
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
28. Januar 2023
(Premiere)

 

Aalto-Musiktheater, Essen

Ovationen für die musikalische Crew und gespaltene Reaktionen einschließlich heftiger Buh-Rufe auf das Regie-Team löst die Premiere von Giuseppe Verdis Oper Simon Boccanegra am Essener Aalto-Musiktheater aus. In der Tat hinterlässt die Produktion ebenso zerrissene Eindrücke wie die bisherigen Neuinszenierungen der bislang nicht sonderlich glücklich verlaufenen Saison der Essener Oper. Auch die letzten Essener Inszenierungen der hoch gehandelten Regisseurin Tatjana Gürbaca von Wagners Lohengrin und Webers Freischütz verwöhnten nicht mit konzeptioneller Stringenz oder sensiblem Einfühlungsvermögen in die spezifische Tonsprache der Werke.

Und gerade das fordert der Simon Boccanegra in besonderem Maße. Das Werk war und blieb Verdis Schmerzenskind. Vom Meister heiß geliebt, gründlich umgearbeitet und dennoch vom Publikum nie so richtig ins Herz geschlossen. Obwohl oder weil die Oper zu Verdis sensibelsten Werken gehört, subtil instrumentiert und psychologisch differenziert ausgefeilt. Vielleicht zu sensibel für einen Massenerfolg: ein Geniestreich ohne Ohrwürmer, ohne tenorale Hauptpartie, ohne Triumphmärsche. Der Titelheld stirbt einen leisen, unspektakulären, düsteren Gift-Tod ohne jede Verklärung.

Die Essener Neuinszenierung lebt von ihrer rundum überzeugenden musikalischen Qualität, deren Wirkung allerdings von den szenischen Ungereimtheiten immer wieder überschattet wird. Wobei das Dirigat Giuseppe Finzis am Pult der Essener Philharmonie einige Nachbesserungen vertragen könnte. Der Genre-erfahrene Dirigent setzt auf scharfe Kontraste. Den zarten lyrischen Passagen setzt er in den Chorszenen unkontrollierte dynamische Eruptionen entgegen. Den feinen, teilweise lautmalerischen Details der filigranen Partitur fehlt noch der letzte Schliff an klanglicher Delikatesse.

Das wirkt sich allerdings nicht wesentlich auf die durchweg vorzüglichen vokalen Leistungen des Ensembles aus. Auf die rundum prächtigen Stimmen nimmt Finzi so viel Rücksicht, dass niemand zu unangemessenem Forcieren gezwungen wird. Und so kann Daniel Luis de Vicente die feinen psychologischen Fassetten der Titelpartie mit seinem warmen, substanzreichen Bariton stimmlich wesentlich differenzierter zum Ausdruck bringen als szenisch. Ein beeindruckendes Rollen-Debüt. Jessica Muirhead, die im Februar neben der Amelia auch noch so unterschiedlich gestimmte Titelpartien wie die Arabella und die Lucrezia Borgia stemmen muss, überzeugt nicht minder, auch wenn sie mit ihrer großen Stimme die mädchenhafte Leichtigkeit der Partie nur bedingt vermitteln kann. Dafür gewinnt die Partie allerdings an selbstbewusster Stärke.

Mit jugendlichem Elan und einer gehörigen Portion an tenoraler Strahlkraft begeistert Carlos Cardoso als unglücklicher Liebhaber Adorno das Essener Publikum. Mit Almas Svilpa als Fiesco und Heiko Trinsinger als Jago-würdiger Bösewicht Paolo bekräftigen bewährte Stützen des Ensembles die musikalische Qualität der Inszenierung.

Zugegeben: Die gerade in dieser Oper außergewöhnlich komplizierte Verknüpfung politischer Konflikte mit persönlichen Krisen macht es Regisseuren nicht leicht. Die Geschichte um Simon Boccanegra, den ersten Dogen Genuas im 13. Jahrhundert, wird von Machtkämpfen zwischen Patriziern und Plebejern bestimmt, denen der Titelheld letztlich zum Opfer fällt. Das politische Umfeld betten Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Arrigo Boito in eine diffizil mit den politischen Umständen verwickelte Vater-Tochter-Romanze ein, die Verdi musikalisch noch zärtlicher, aber weniger süßlich ausmalt als die Rigolettos und Gildas.

Leider unternimmt Gürbaca wenig, die ohnehin komplizierte Handlung anschaulich zu strukturieren. Im Gegenteil: Mit ihrem Ausstatter-Team, dem Bühnenbildner Klaus Grünberg und der Kostümbildnerin Silke Willrett, stiftet sie zusätzliche Verwirrung, indem Auge und Ohr durch optischen Firlefanz von der Handlung und insbesondere der Musik abgelenkt werden. Vor allem die Kostüme wirken wie ein Sammelsurium aus einem Karnevals-Depot. Damit lässt sich zwar jeder Chorist individuell ausstaffieren. Aber wenn damit die Volksaufstände inklusive Baseball-Schläger und Wikingerhelm an die Bestürmung des Washingtoner Kapitols erinnern sollen, wirkt der verkrampfte Versuch wie ein Marionettenaufstand aus der Augsburger Puppenkiste. Nur nicht so originell und lustig.

Auch das völlig neutrale, beliebig austauschbare und atmosphärisch blasse Bühnenbild Grünbergs mit oval zugeschnittenen, verschiebbaren Elementen aus grauem Plastik steht dem Kolorit der Musik diametral entgegen. So ist natürlich auch vom Meer, das als Freiheitssymbol eine tragende Rolle spielt, nichts zu sehen.

Und die Regisseurin begnügt sich in den Schlüsselszenen mit einer braven, routinierten Personenführung und läuft in den Chorpassagen zu überdrehtem Aktionismus auf. Reflektiert, erhellend und stimmig ist das alles nicht.

Eine szenisch fragwürdige Produktion auf hohem musikalischem Niveau.

Pedro Obiera