O-Ton

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Foto © Matthias Jung

Aktuelle Aufführungen

Trauern, bis der Arzt kommt

ORFEO ED EURIDICE
(Christoph Willibald Gluck)

Besuch am
26. September 2020
(Premiere)

 

Aalto-Musiktheater, Essen

An sich bietet Christoph Willibald Glucks bekannteste Oper Orfeo ed Euridice mit ihrer knappen Länge und überschaubaren Besetzung ideale Voraussetzungen für einen Wiedereinstieg in den Opernalltag. Dass der Chor hinter der Bühne oder in den oberen Rängen postiert werden muss, damit wird man sich wohl noch einige Zeit abfinden müssen. Dass die Chorpartie deshalb zusätzlich beschnitten werden oder der Furientanz ganz ausfallen muss, wie jetzt am Essener Aalto-Theater, ist allerdings nicht nachvollziehbar und mindert ohne Not den dramatischen Gehalt des Werks.

Daran scheint Regisseur Paul-Georg Dittrich ohnehin nicht sonderlich interessiert zu sein, der dieses Paradestück um Trauerarbeit, Verlustängste und Vertrauensstärke auf eine pathologische Schiene schiebt. Orfeos Schmerz um den Verlust Euridices, seine fehlende Bereitschaft, sich mit dem Schicksalsschlag abzufinden, sein verzweifelter Wunsch, die Tragödie rückgängig machen zu wollen, alles das sind doch sehr menschliche Reaktionen und Zeichen verständlicher Trauer. Auch die Vertrauensprobe, die Amor dem verzweifelten Orfeo auferlegt, seine Euridice bis zum Erreichen des Höllentors nicht anschauen zu dürfen, auch die Irritationen, denen Euridice ausgesetzt ist mit der zentralen Frage, wie selbstlos und fest die Bindung tatsächlich ist: All das reflektiert nichts anderes als menschliche Probleme. Dass Dittrich diese interessanten und spannenden, von Gluck genial in Töne gesetzten Phänomene in Verbindung zu diversen pathologischen Ausfallerscheinungen wie dem Locked-In-Syndrom in Verbindung setzt, ist an sich schon abwegig. Dass er die ganze Aufführung mit eingeblendeten medizinischen Statements von Mitarbeitern neurologischer Abteilungen verschiedener Essener Kliniken durchsetzt und selbst die Schlussszene damit durchlöchert, wirkt sich dramaturgisch geradezu tödlich aus.

Obwohl mit Bettina Ranch eine stimmlich und darstellerisch äußerst ausdrucksvolle Darstellerin für die zentrale Rolle des Orfeo zur Verfügung steht und auch Tamara Banješević als Euridice starke Akzente setzt, lässt Dittrich keine Gelegenheit aus, von den Figuren abzulenken. Nicht nur durch die medizinischen Exkurse, sondern auch durch überfrachtete Video-Einblendungen aus der Essener Innenstadt als Chiffren der Unterwelt oder durch Liebesspiele des Tänzerpaars Dale Rhodes und Larissa Machado. Die sind zwar schön anzusehen, rücken aber die Sänger in den Hintergrund. Dass sich Orfeo und Euridice, in eine Plastikhülle eingeschweißt, am Ende im Tod vereinigen, nimmt man angesichts der reizüberflutenden Beigaben nur noch beiläufig wahr.

Bedauerlich, sorgt Generalmusikdirektor Tomaš Netopil doch mit den hochmotiviert aufspielenden Essener Philharmonikern für einen straffen Ablauf des auf 75 Minuten gekürzten Abends.  Und die Protagonisten, neben Ranch und Banješević auch Christina Clark als Amor, hätten mit ihren Möglichkeiten den dramatischen Gehalt des Werks ohne den ablenkenden medialen Firlefanz noch präsenter zum Ausdruck bringen können. Schade auch für den Chor, der sich durch die Kürzungen erstaunlich schnell von wilden Furien in milde Samariter verwandelt.

Viel Beifall für die musikalischen Akteure, gedämpfte Reaktionen für den Regisseur mit seiner überreflektierten und kontraproduktiven Inszenierung. Man darf gespannt sein, wann uns Karl Lauterbach oder Christian Drosten in einer der nächsten Bohème– oder Traviata-Produktionen endlich über die virologischen Ursachen der Tuberkulose aufklärt.

Pedro Obiera