O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Philharmonie Essen - Foto © Frank Vinken

Aktuelle Aufführungen

„Von fremden Ländern und Menschen“

NOW-FESTIVAL
(Diverse Komponisten)

Besuch am
30. und 31. Oktober 2020
(Einmalige Aufführungen)

 

Philharmonie Essen

Von fremden Ländern und Menschen: Das Motto des diesjährigen Now-Festivals für Neue Musik der Philharmonie Essen klingt wie eine Trotzreaktion auf die massiven Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheiten unserer Tage. Dass viele vorgesehene Künstler aus Übersee nicht anreisen konnten, hat die Veranstalter nicht entmutigt, ein immer noch stattliches Ersatzprogramm auf die Beine zu stellen, das allerdings nach nur drei Tagen durch den kompromisslosen Lockdown sein vorzeitiges Ende findet.

Das Eröffnungskonzert in der Essener Philharmonie deutet immerhin an, was das Publikum in den nächsten Wochen erwartet hätte. Musik, die über den Tellerrand Europas blicken lässt, Interpreten der ersten Garnitur und Kreativität in Hülle und Fülle. Und die ergießt sich den Besuchern bereits eine Stunde vor Beginn des offiziellen Konzerts mit Klanginstallationen von sieben Studenten der Folkwang-Universität, die in ihren knappen Beiträgen Alltagsklänge aus aller Herren Länder und Regionen von Bottrop bis Kuba verarbeiten.

Und in weite Fernen entführt die Besucher auch das Eröffnungskonzert mit Komponistinnen aus drei asiatischen Ländern. Das Motto mag Erwartungen schüren, besonders exotischen Kreationen zu begegnen. Dass sich die Arbeiten der aus dem Iran, Japan und Südkorea stammenden Damen stilistisch gar nicht wesentlich von der europäischen Avantgarde unterschieden, liegt an dem Umstand, dass die meisten Neutöner ihr Handwerk in Europa erlernten oder zumindest vertieften, oft auch hier ansässig sind, so dass die Iranerin Elnaz Seyedi freimütig bekennt, dass sie erst aus der Distanz die traditionelle Musik ihres Heimatlandes bewusst wahrgenommen hat.

Elnaz Seyedi – Foto © Roya Noorinezhad

Und so spielt auch das Herkunftsland in ihrer neuen, in Essen uraufgeführten Komposition keine dominierende Rolle. Fragments inside nennt sich das Auftragswerk und spielt mehr mit „exotischen“ Überraschungen westlicher Musik. So mit den skurrilen Instrumenten des Amerikaners Harry Partch. Vier gewaltige, mit 90 Saiten bespannte Riesenzithern rauen den Klang des klassisch besetzten Kernensembles auf. Dass man dabei, wie so oft, das Verhältnis von Aufwand und Ertrag in Frage stellen kann, mindert nicht den Wert des originellen, von dunklen, abrupt abfallenden und abbrechenden Glissandi bestimmten Werks.

Stärkere Kontraste von zart angehauchten Klängen bis zu tumultartigen Zuspitzungen kennzeichnen Ochres II für Flöte, Oboe, Klarinette und Ensemble der Japanerin Malina Kishino. Und die Cosmigimmicks der Südkoreanerin Unsuk Chin beziehen ihren Reiz aus dem Zusammenspiel eines mit Mandoline, Gitarre und Harfe bestückten Zupf-Trios mit dem restlichen Ensemble. Beides Arbeiten von filigraner handwerklicher Präzision, wenn auch etwas lang geraten.

Das Kölner Ensemble Musikfabrik, seit Jahren Stammgast des Now-Festivals und ausgewiesener Kenner der Neuen Musik, sind ideale Interpreten der anspruchsvollen Werke, geleitet von dem nicht minder kundigen Dirigenten Peter Rundel.

Viel Beifall für einen gelungenen Auftakt in kulturfeindlichen Zeiten, der zugleich das vorzeitige Ende des Festivals einläutet.

Das Kölner WDR-Sinfonieorchester gehört zu den Stammgästen des Festivals, und Dirigent Emilio Pomàrico lässt am folgenden Abend in seinem Statement erkennen, dass ihn die geografische Herkunft der Schöpfer ohnehin weniger interessiert als das meist junge Alter der Komponisten und die Stimmung der Stücke. Nationaltypische Elemente verarbeitet lediglich der 28-jährige Türke Mithatcan Öcal in seiner Mini-Oper ohne Worte für 15 Musiker Belt of Sympathies, in die er zwar türkische Melodien und entsprechendes Kolorit einfließen lässt, dieses Material aber bis zur Unkenntlichkeit in einem diffusen, extrem zersplitterten Klangbad auflöst.

Besondere Sympathien bringt Pomàrico den jung verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand und Claude Vivier entgegen. Bertrand nahm sich mit 29 Jahren das Leben, Vivier wurde im Alter von 39 Jahren ermordet. Viviers Trauerelegie Zipangu für dreizehn Streichinstrumente beeindruckt durch ihre zarte, spannungsreiche Expressivität und ihre noble Klanggebung. Knapp gebaut, ohne Fettansatz, ebenso filigran gearbeitet wie Christophe Bertrands Yet für 20 Musiker: ein vitales, klanglich in 1000 Farben schillerndes Werk, von einer Leichtigkeit getragen, die selten in der zeitgenössischen Musik anzutreffen ist.

Ensemble Musikfabrik – Foto © Katharina Dubna

Auch nicht im Lebensbaum III für 16 Streichinstrumente der Koreanerin Younghi Pagh-Paan im Andenken einer verstorbenen Freundin. Eine Streicher-Elegie wie Viviers Zipangu, aber schwerer, lastender und schroffer als Viviers Meisterwerk.

Zwei Konzerte, die den Appetit auf weitere Begegnungen mit Musik fremder Wurzeln anregen, der aber in diesem Jahr nicht gestillt werden kann. Traurig, wenn man zur Kenntnis nimmt, mit welcher Akribie die Hygieneregeln in der Essener Philharmonie mit Hilfe des freundlichen Personals eingehalten und mit welchem Aufwand die Sitzpläne und die Programme mehrmals der aktuellen Situation angepasst wurden.

Mit nur vier Konzerten muss sich das Essener Now-Festival für Neue Musik zwar extrem kurz fassen. Dennoch lässt es interessante Einblicke in das Motto „Von fremden Ländern und Menschen“ zu. Und zwar die Tatsache, dass wir trotz der international bunten Komponistenriege weniger Exotisches geboten bekommen, als man erwarten kann. Dafür aber die Einsicht, dass sich die aus allen Kontinenten stammenden, aber stark mit der hiesigen Musik verbundenen Neutöner angeregt fühlen, sich intensiver mit den Traditionen ihrer Heimatländer zu beschäftigen. Und das betrifft natürlich auch die ganz jungen Vertreter. Insofern verdient das Konzert der Folkwang-Universität mindestens so viel Beachtung wie die Auftritte der etablierten Ensembles wie die Kölner Musikfabrik oder das WDR-Sinfonieorchester.

Berührend, wie etwa der brasilianische Student Celso V. Machado die Begegnung mit der einsaitigen, als Zupf- und Streichinstrument verwendbaren Birambau seines Heimatlandes wie eine Erleuchtung empfindet und sich zu einer äußerst kreativen Komposition für Birambau, Gitarre und Elektronik inspirieren lässt. Nicht minder interessant das Sextett Khí-Tang des taiwanesischen Studenten Po-Chien Liu, der den modernen Großstadtlärm Taiwans mit rituellen Klängen der buddhistischen Musik verknüpft.

Dass die mehrmonatige, Corona-bedingte Zwangskultur nicht zu passiver Entmutigung führen muss, beweist der Konzertmeister der Duisburger Philharmoniker Önder Baloğlu, der 24 Komponisten seiner türkischen Heimat bat, einmütige Miniaturen für Solo-Violine zu komponieren. Erstmals führt Baloğlu die Stücke zyklisch vor, und man kann sich an einem stilistisch bunten Strauss von zarten, schlichten Elegien bis zu virtuosen Drahtseilakten und fantasievollen Klangexperimenten erfreuen.

Ein Konzert, das in seiner originellen Machart, Vielfalt und Spontanität alles andere als im Schatten der Top-professionell besetzten Konzerte des Mini-Festivals steht.

Pedro Obiera