O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Das Leben ist lebenswert

„FREUNDE, DAS LEBEN IST LEBENSWERT!“
(Diverse Komponisten)

Besuch am
1. Januar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Philharmonie Essen, Alfried-Krupp-Saal

Nein, die Silvesternacht ist nicht, wie von den Medien gemeldet, „zumeist ruhig“ verlaufen. Sondern in dieser Nacht hat die Regierung das Frustrationspotenzial in der Bevölkerung mit ihrem Verbot des Kaufs von Feuerwerk mächtig nach oben geschraubt. Für viele Menschen ist das Feuerwerk das Zeichen für einen Neubeginn, für eine neue Chance. Ermutigung, wieder neu durchzustarten. Wo so viel Licht in der Nacht am Himmel steht, muss es einen Weg aus der Dunkelheit geben. Und was moralinsaure Feuerwerksgegner schon als „Zeitenwende“ feiern, wird sich bitter rächen. Und auch der neue Bundeskanzler, der in seiner Neujahrsansprache eine gesellschaftliche Spaltung bestreitet, während er sprachlich schon mal alles daran setzt, die Gesellschaft in Männlein und Weiblein zu trennen, wird sich da noch umschauen. Gewiss, der Massenanfall von Verletzten, den die Regierung wider alle Erfahrungswerte befürchtet hatte, ist ausgeblieben. Stattdessen gab es Stille. In der Nacht noch durchbrochen von Knallkörpern, deren Herkunft man gar nicht wissen möchte, die aber in ihrer Wirkung wirklich mehr an Kriegsgebiete als an ein Freudenfest erinnerten, liegt die Stille bleiern über dem Neujahrstag.

Andrea Sanguineti – Foto © O-Ton

Wie gut, dass es die schöne Tradition der Neujahrskonzerte gibt. Wenn in diesem Jahr auch nicht für alle. Der Alfried-Krupp-Saal in der Philharmonie Essen beispielsweise fasst annähernd 2000 Menschen. In diesem Jahr dürfen höchstens 750 Besucher an dem Konzert teilnehmen. Die aber sind gekommen. Denn die Essener Philharmoniker haben ein ganz besonderes Programm ausgerufen. Statt einer schwergewichtigen Symphonie gibt es eine Operetten-Gala. Das klingt nach einem heiter-beschwingten Abend. Und der Dirigent an diesem Abend ist Andrea Sanguineti. Mit 23 Jahren legte er bereits sein Diplom im Orchesterdirigieren am Mailänder Konservatorium ab, und sein breit gefächertes Repertoire reicht von Operetten bis zur italienischen Oper. Das klingt ebenso vielversprechend wie die beiden Solisten, die den Gesang gestalten. Irina Simmes hat an der Folkwang-Universität Essen studiert und ist heute Ensemble-Mitglied der Dortmunder Oper. Richard Samek studierte in Brünn und war bereits am Aalto-Theater als Hans in der Verkauften Braut von Friedrich Smetana zu erleben. Die Vorfreude ist groß.

Der Alfried-Krupp-Saal ist ein Biest. Als Schuhkarton mit aufsteigender Tribüne darfst du dich darin mit deinem Orchester austoben, da verzeiht er fast alles. Wenn aber menschliche Stimmen ins Spiel kommen, muss der Dirigent sorgfältig austarieren, um sie nicht von der Bühne ins Nichts zu fegen. Sanguineti eröffnet mit der Ouvertüre zu Dichter und Bauer von Franz von Suppé. Seine Performance ist beeindruckend. Der Laie fragt sich hier schnell, wie die Musiker seiner vielgestaltigen Gestik etwas entnehmen können. So stellt man sich einen italienischen Dirigenten in einem schwarzweißen Stummfilm vor. Das Orchester lässt sich von seinem Tempo anstecken, und so kommt gleich Glanz auf. Was für Samek mit seiner Arie Die Rose erblüht, wenn Sonne sie küsst aus Cagliostro in Wien von Johann Strauss (Sohn) allerdings einen gewaltigen Einsatz erfordert, um über dem Orchester zu bestehen. Dieses Spiel der Kräfte wird sich über den Abend fortsetzen und nicht immer zu Gunsten der Sänger ausgehen. Auch Simmes wird weder in ihrer Arie Es hat dem Grafen nichts genutzt wie im Duett Ich war ein echtes Wiener Blut aus der Operette Wiener Blut geschont.

Irina Simmes – Foto © O-Ton

Wo Sanguineti sich um Leichtigkeit in Dirigat und Auftritt bemüht, bleibt der Abend ein wenig im Format stecken. Allzu steif gestaltet sich der Ablauf. Nach den Sängern gibt es gleich wieder eine Ouvertüre. Diesmal dürfen die Essener Philharmoniker mit dem Vorspiel zu Leichte Kavallerie von Suppé leuchten. Samek schließt die Arie des Octavio aus Franz Lehárs Giuditta Freunde, das Leben ist lebenswert! an. Giuditta selbst wird von Simmes mit dem Evergreen Meine Lippen, sie küssen so heiß interpretiert. Auch hier bleibt den beiden wieder nur, ihr gesamtes Stimmvolumen in die Waagschale zu werfen, so dass kein Platz für große Mimik oder Bewegungen bleibt.

Im weiteren Verlauf wird das Programm etwas zäh. Simmes begeistert noch einmal ordentlich mit dem Koloraturwalzer Il bacio von Luigi Arditti, aber in einem zweieinhalbstündigen Programm hätte man sich dann doch noch ein paar Schlager gewünscht. Und so atmet der eine oder andere sichtlich auf, als die Solisten mit Champagner-Gläsern auf die Bühne rauschen. Denn damit wird ganz offensichtlich das Duett Stoß an! aus Wiener Blut und damit das Ende des offiziellen Ablaufs eingeläutet. Gleich drei Zugaben sollen sich noch anschließen. Darunter mit Lippen schweigen aus der Lustigen Witwe von Franz Lehár noch mal ein richtiger Kracher. Und zu einer schnellen Polka von Strauss hat das Orchester auch noch einen eigenen Text verfasst, mit dem es seinem Publikum einen herzlichen Neujahrsgruß übermittelt. Da hält es die Besucher beim Applaus dann auch nicht mehr auf den Sitzen. Ja, so darf das neue Jahr beginnen.

Michael S. Zerban