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Grandioses Krisentheater

LIEBESWEICHEN
(Kurt Weill)

Gesehen am
5. April 2020
(Video on demand)

 

Theater und Philharmonie Essen, Aalto-Theater

Nach einem mehr als gelungenen Einstieg in Oberhausen ist die WDR-Kulturambulanz und damit der Kulturjournalist Stefan Keim jetzt zu Gast bei Theater und Philharmonie Essen. Dort gibt es die Reihe Mehrmusik, in der andere Formen des Liederabends ausprobiert werden sollen. So fand im vergangenen September in der Alten Synagoge Essen, einem Treffpunkt für jüdische Kultur, ein Abend mit dem Titel Liebesweichen statt. Es wird ein Abend, der die Beziehung von Lotte Lenya und Kurt Weill erzählt. Einhellige Meinung nach diesem Abend: Eine Aufführung ist definitiv zu wenig. Da kam Keim mit seinem Kooperationsangebot gerade recht. Und so traf sich das Team des Westdeutschen Rundfunks mit dem Team von Theater und Philharmonie Essen im Aalto-Theater, um dort im Foyer den „Abend“ aufzuzeichnen, der später als Video in der Kulturambulanz gezeigt werden soll. Natürlich auch dieses Mal unter den Arbeitsbedingungen, die die Regierung für die Eindämmung des Corona-Virus vorgibt.

Das Foyer des Aalto-Theaters ist lichtgeflutet. Das muss die Stimmung nicht trüben, stellt die Kamera aber vor Herausforderungen, wenn das helle Haar der Protagonistin im Gegenlicht verschwimmt. Vor den Fenstern des Foyers ist ein Podium aufgebaut, auf dem zwei Bartische mit Stühlen und davor zwei Notenständer bei Bedarf aufgestellt sind. Hinter Marie-Helen Joël eine gerahmte Fotografie von Kurt Weill, hinter Thomas Büchel eine Fotografie der jungen Lotte Lenya. Das Podium ist von Mikrofonen eingerahmt. Rechts hinter der Spielfläche ist ein Flügel mit so viel Abstand aufgebaut, dass der Pianist, Oliver Malitius, kaum erkennbar ist. Das hat aber wohl eher akustische Gründe. Zumindest entsteht so eine ausgewogene Balance zwischen Musik und Stimme.

Vor dem Start des Videos zeigt ein Blick auf den kurzen Begleittext, dass auch hier wieder Freiheiten in Form von fehlender Information gelten, auf die sich im Theater wohl kaum jemand eingelassen hätte. Noch immer, und dafür steht der marginale Text symptomatisch für die Präsentation der Kulturschaffenden im Netz, ist im Bewusstsein der Macher die Bedeutung des Internets nicht angekommen. Wer das wunderbare Drehbuch geschrieben hat, wird mit keiner Silbe erwähnt. Und wo, wenn nicht im Internet, wäre es einfacher, wenn es englische Liedtexte gibt, diese aufzuführen und zu übersetzen, um das deutsche Publikum zu erreichen? Wenn es schon keine Untertitel im Video gibt? So lange die Kulturschaffenden im Internet den Eindruck erwecken, lediglich eine Ersatzleistung anzubieten, brauchen sie sich nicht darüber zu wundern, dass die Menschen sich lieber Fernsehserien anschauen.

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Dabei ist mit diesem Video schon viel gewonnen. Die professionelle Kameraführung – wer war’s, keine Ahnung, wird vom Westdeutschen Rundfunk geheim gehalten – ist großartig. Dass so etwas ohne Proben funktioniert, ist fast nicht vorstellbar. Die Einführung nutzt Keim für ein Gespräch mit dem Intendanten Hein Mulders über die Unwägbarkeiten der Spielzeit-Planung. Warum reden die beiden nicht über das Stück? Um das geht es doch. Absolut voraussehbar, dass Mulders auch keine Idee hat, wie es weitergeht. Das bricht ihm keinen Zacken aus der Krone, sondern ist der Stand der Dinge, über den man nun eigentlich wirklich nicht mehr zu reden braucht. Aber dann geht es los. Die Aufführung ist kurzweilig, setzt sich aus Liedern, Texten und Briefzitaten zusammen. Hier hat sich jemand sehr intensiv mit den Biografien von Lotte Lenya und Kurt Weill auseinandergesetzt, ausgiebiges Quellenstudium betrieben und ein unglaublich feines Gespür für die wichtigen Stationen beider Leben bewiesen. Die Lieder sind gut eingepasst und lassen auch die großen „Klassiker“ wie Mackie Messer oder Surabaya Johnny nicht vermissen, ohne ein paar ungewöhnliche „Schmankerl“ auszulassen.

Obwohl oder gerade vielleicht, weil die beiden Protagonisten ihre Skripte fest im Blick haben, kommt es immer wieder zu Versprechern. Das hat man woanders bei mehr Text schon besser erlebt, ändert aber nichts daran, dass es Marie-Helen Joël und Thomas Büchel gelingt, eine ganz besondere Atmosphäre aufzubauen. Man spürt nicht nur den besonderen Charakteren von Lenya und Weill nach, sondern fühlt sich auch zurückversetzt in das Lebensgefühl jener Zeit, für das man vielleicht gerade ob der besonderen Situation der Gegenwart besonders sensibilisiert ist. Was Büchel explizit herausarbeitet, ist die Unwirklichkeit insbesondere der Zeiten der so genannten goldenen 20-er Jahre bis zur „Machtergreifung“. Das geht unter die Haut. Beide Darsteller beweisen ein gutes Gefühl für die Bewegung im und die Aufteilung der Räume. Dass die Mezzosopranistin und der Schauspieler den stimmlichen Anforderungen gewachsen sind, steht ohnehin außer Frage. Oliver Malitius erfasst ganz wunderbar die Stimmung der Weillschen Lieder.

Nach einer Stunde und 20 Minuten geht der wunderbare Liederabend der anderen Art zu Ende. Eine Glanzleistung in jeder Hinsicht. Statt des Beifalls, für den es auf der Website des WDR nicht einmal Gelegenheit in Form eines Chats gibt, verabschiedet Stefan Keim die Darsteller gekonnt. Und wenn es einer weiteren Kritik bedarf, sei angemerkt, dass die Aufführung mit dem Tod Kurt Weills endet. Lenya überlebte ihren Ehemann um 31 Jahre, nicht ohne sein Werk in würdiges Gedenken zu setzen. Das wäre in einem Satz erklärt gewesen.

Trotz kleiner Mäkel steht fest: Liebesweichen sollte fester Bestandteil des Repertoires in Essen werden. So liebevoll und gekonnt sind die Leben von Lenya und Weill wohl nur selten in Szene gesetzt worden.

Michael S. Zerban