O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Heftig und intensiv

LEER/STAND – DER BROTLADEN
(Antigone Akgün, Christian Freund)

Besuch am
22. Juli 2023
(Premiere)

 

Rabbit-Hole-Theater, Essen

Bertolt Brecht scheint auf den deutschen Theaterbühnen ein wenig unter die Räder gekommen zu sein. Zumindest ist der subjektive Eindruck, dass man seine wichtigen Stücke in den Spielplänen nur noch selten zu Gesicht bekommt. In einer Zeit, in der sich die Entscheider öffentlich finanzierter Bühnen von Theaterleuten zu Aktivisten verwandeln, scheint das zwar nur folgerichtig, aber mancher Theatermacher könnte hier einen bewussten Gegenpol setzen, um sich mit den wirklichen Problemen der gegenwärtigen Gesellschaft auseinanderzusetzen und dem Publikum wieder den Weg zum Diskurs anstatt zur ideologischen Präsentation zu weisen.

Zwar gibt es hier und da Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny oder die Dreigroschenoper zu sehen, aber längst sind die Stücke zu netter Unterhaltung verkommen. Wie wäre es mal wieder mit der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, die Maßnahme, Mutter Courage oder Herr Puntila und sein Knecht Matti? Zwar geht es hier um die Verelendung der Städte, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse, aber vielleicht interessiert sich das Publikum derzeit dafür tatsächlich mehr als für Penisse, Vulven und deren richtige Wahl.

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Antigone Akgün und Christian Freund haben sich immerhin eines Fragments angenommen und es auf seine Gültigkeit für die Gegenwart befragt. Die Rede ist von Der Brotladen, eine wichtige Vorarbeit für Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Ab 1926 interessierten sich Brecht und Elisabeth Hauptmann für die Heilsarmee. Hauptmann war Schriftstellerin, Übersetzerin und Mitarbeiterin Brechts. Nach Brechts Tod 1956 gab sie seine Werke beim Suhrkamp-Verlag heraus. Insbesondere im Winter 1929 besuchten die beiden Nachtasyle und Küchen der Heilsarmee, hinterfragten Finanzpraktiken, Sektencharakter und innere Organisation des „christlichen Vereins“, der kirchenunabhängig bis heute wirkt. Die Fragen dazu sind spannend und haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Inwieweit ist ein Verein, der sich die Wohlfahrt auf die Fahnen geschrieben hat, eigentlich an der Änderung von Notverhältnissen interessiert? Ist es moralisch zu verantworten, dass ein Verein sein Geld mit Hilfsbedürftigen verdient? Hauptmann und Brecht verdichteten ihre Erkenntnisse zu dem Fragment Der Brotladen. Bäcker Meininger beschäftigt die bei ihm wohnende Witwe Niobe Queck, die ihre fünf Kinder versorgen muss, mit kleineren Botengängen. Unter anderem trägt er ihr auf, Holz zu bestellen. Weil ihn selbst aber Zinszahlungen drücken, will er die Holzbestellung nicht bezahlen und schiebt die Verantwortung für die Bestellung auf die Witwe, die er dann aus dem Haus wirft. Der Zeitungsjunge Washington Meyer gewährt ihr Unterschlupf in seiner Zeitungsbude. Weil sie dort nicht bleiben darf, landet sie bei der Heilsarmee, die den Holzvorrat einheimst, ihr die Kinder nimmt und für den Unterhalt der Witwe sorgt. So weit im Groben die Geschichte, der sich Akgün und Freund gegenübersahen.

In ihrem Stück Leer/Stand – Der Brotladen verquicken sie diese Geschichte mit der Gegenwart, in der es gewaltige Leerstände in den Städten gibt, ohne dass Wohnungsbedürftige davon profitieren könnten. Mit dem Stück wurden die beiden nach Augsburg zum Brecht-Festival dieses Jahres eingeladen und mit durchweg positiven Kritiken bedacht. Jetzt führen sie es im Rabbit-Hole-Theater am Viehoferplatz in Essen auf. Bühne und Kostüm haben Andrea Künemund und Vitalia Gordeev entwickelt, für die Klanggestaltung ist Jonathan Lutz verantwortlich. Das Publikum zeigt sich stark interessiert: ausverkauft. Was unweigerlich zum verspäteten Beginn führt, weil man bis auf den letzten vorgemerkten Gast warten muss. Denn zunächst verlässt die Gruppe das Theater und begibt sich zum Pferdemarkt, ein paar hundert Meter entfernt. Hier werden die Besucher von Freund empfangen, der etwas unverständlich zunächst von Leerstand in Bremen berichtet, ehe er darauf kommt, dass es ähnliche Projekte auch in Essen gibt. Anschließend geht es zurück auf die Rückseite des Theaters. Eine gute Idee, die vor allem für regelmäßige Besucher interessant ist, weil sie nun sehen, wohin die Schauspieler entschwinden, wenn sie den Hinterausgang des Theaters als Abgang benutzen. Hier trifft die Gruppe wieder auf Freund, der ab jetzt zur Höchstform aufläuft. Beginnend mit akrobatischen Sprüngen auf Mülltonne und Mauer zurück auf den Boden, derweil er über Lautsprecher bekannt gibt, dass es hier ein leerstehendes Objekt gibt, das es zu besetzen gilt.

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Die Besucher betreten das Theater durch den Hintereingang. Der Raum ist vollständig ausgeräumt, an den Längsseiten sind jeweils zwei Stuhlreihen aufgebaut. Aus Pappe sind ein Ofen und Brotregale angebracht, in der ansonsten leeren Mitte des Raums gibt es ein paar Semmeln. Der Barbereich ist gegen ein Mischpult ausgetauscht, die Vorhänge an der Fensterfront sind abgehängt. In etwa so trist mag es ausgesehen haben, als Dominik Hertrich beschloss, aus dem ehemaligen Ladenlokal ein Theater zu machen und später Jens Dornheim und Christian Freund als Mitinhaber ins Boot holte. Hertrich sitzt in einer Ecke vor dem Fenster und steuert die Technik, wird später auch Zitate in den Raum rufen oder aus dem Off sprechen lassen. Freund legt ein gewaltiges Sprechtempo an den Tag, was so manchen Besucher im Verständnis überfordert. Hinzu kommen wilde Bewegungen quer durch den Raum, die nicht nur für ständige Aufmerksamkeit, sondern auch für eine zunehmende Dynamik sorgen. Schließlich verlässt er den Raum, um auf der Straße, ja, auf der dreispurigen Straße, nicht nur auf dem Bürgersteig Zeitungen anzubieten. Womit er selbst nicht gerechnet hat: Ein zufälliger Fußgänger zeigt überwältigendes Interesse an seinem Hometrainer, der vor der Tür steht und mit dem eigentlich Fahrradfahrten simuliert werden. Da gerät Freund unversehens ins Improvisationstheater, was er vorbildlich meistert, sehr zur Freude des Publikums. Als der Passant entdeckt, dass er Teil eines Theaterstücks geworden ist, ist der Spaß groß.

Anschließend greift der Schauspieler zum Mikrofon, um einen Rap zu präsentieren, der in immer längere Musikstücke ausufert, die so laut werden, dass die Besucher sich die Ohren zuhalten. Der Schluss des Stücks geht ein bisschen in dem Lärm unter, so dass der Ausgang des Abends ungeklärt bleibt. Schließlich verschwinden erst Hertrich, dann Freund nach draußen. Ist das jetzt das Ende? Es scheint so. Das Publikum reagiert zögerlich, vor allem, weil die Darsteller nicht wieder auftauchen. Das hätte man sich anders gewünscht.

Die Kritiker in Augsburg hatten Recht. Es ist ein Stück wildes, unorthodoxes Theater, das intensiv und heftig über mehr als eine Stunde das Publikum gefangen nimmt, die Ideen Brechts als heutige verbrieft und Fragen offenlässt. Am Ende verlässt man wie erschlagen das Theater. Wie immer am Viehoferplatz gibt es die Möglichkeit, nach der Aufführung das Gespräch mit den Darstellern zu suchen und persönliche Fragen zu klären. Und so klingt ein gelungener Abend in der Essener Nordstadt glücklich aus.

Michael S. Zerban