Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
Alice Ripoll ist in Rio de Janeiro geboren. Ihre Ausbildung zur Tänzerin, Choreografin und Bewegungstrainerin absolvierte sie am Angel Vianna College in ihrer Heimatstadt. Von Anfang an interessierte sie sich für die Beziehungen zwischen zeitgenössischem Tanz, Theater und brasilianischem Urban Dance. 2009 übernahm sie die Leitung der Compagnie Cia REC. Immer wieder führten ihre Arbeiten sie nach Deutschland, wo sie beispielsweise im Rahmen der Ruhrtriennale, aber auch an den vier großen Produktionshäusern der so genannten Freien Szene auftrat.
Nun ist sie zum wiederholten Male mit ihrer Compagnie im PACT Zollverein in Essen zu Gast, um das Stück Lavagem zu präsentieren. Wer oder was hier gewaschen wird, erfährt das Publikum in einer rund einstündigen Aufführung. Dazu ist die große Tribüne verhängt, die Stühle sind an allen vier Seiten der Tanzfläche in jeweils drei Reihen aufgebaut. Das ermöglicht eine deutlich größere Nähe zwischen Akteuren und Zuschauern und ist auch so gewollt. Herzstück der Aufführung ist zunächst eine große, quadratische, blaue Bauplane, in die die fünf Tänzer – Alan Ferreira, Katiany Correia, Ròmulo Galvão, Tony Hewerton und Tamires Costa – eingepackt sind. An den Rändern der Tanzfläche sind Eimer und Lappen angeordnet. Im Vordergrund steht die Befreiungsaktion aus der Plane, die sich minutenlang hinzieht, während sich das überdimensionale Knäuel über die Fläche schiebt. Es folgen einige Tanzszenen, die hübsch anzusehen sind, aber keinen wirklichen Rückschluss auf die angekündigte „poetische Studie sozialer Hierarchien in Brasilien“ zulassen. Das wird auch den Rest des Abends so bleiben. Wenn Ripoll „politisch dringlich und dabei sensibel-vielschichtig“ danach fragt, was gereinigt werden muss, erschließt sich das Anliegen zumindest aus der unwissenden deutschen Sicht nicht.
Foto © Christophe Mavric
Nachfolgende Konstellationen, in denen sich die Tänzer immer wieder neu aufstellen, um einen der ihren durch ihre Mitte flutschen zu lassen, lassen die einen an einen Geburtsvorgang, andere an Geldwäsche denken. Glücklicherweise sind Festlegungen nicht erforderlich, weil die Tänzer in ihren Badehosen und Bikinis allein performativ überzeugen. Und so braucht sich der Zuschauer auch nicht darum zu kümmern, dass „reale Handlungen der Reinigung zu einer körperlichen und poetischen Erfahrung mit weitreichender historisch-politischen Bedeutung“ stilisiert werden. Tatsächlich beeindruckt, wie die Akteure beginnen, Schaum zu schlagen und damit nach und nach den Körper eines Tänzers bedecken. Eingebungen wird das in tänzerische Einlagen, die mitunter artistisch wirken. Dass auch mit der Bauplane noch physikalisch interessante Wassereffekte erzielt werden, bereichert den Abend.
Musik ist für die Aufführung nicht vorgesehen, wenn man von perkussiven Momenten absieht, die die Tänzer mit den Eimern erzielen, den Waschplatzgesprächen, die von ihnen gemurmelt werden oder einzelne laute Schreie im Rahmen von Tanzelementen, die an die Capoeira erinnern. Davor braucht das Publikum aber keine Angst zu haben oder gar zu erschrecken, denn der Veranstalter greift hier auf eine aus Sicht der Kulturarbeiter vermutlich größte Errungenschaft des Theaters im 21. Jahrhundert zurück. Eine „Triggerwarnung“, hier als „Hinweis“ gekennzeichnet, hat die Zuschauer bereits im Vorfeld in weiche Kissen gebettet: „In der Arbeit treten laute und plötzliche Geräusche auf.“ Vor einigen Jahren hat man sich in Deutschland noch über die Pflichthinweise in amerikanischen Gebrauchsanleitungen belustigt, dass Mikrowellen nicht für die Trocknung von Haustieren geeignet seien. Die Frage ist, wer hier gerade verblödet.
Wer sich von solchen „Warnhinweisen“ nicht abschrecken ließ, kann einen überaus fantasievollen, kraftvollen und intensiven Tanzabend erleben, auf dessen Fortsetzung man sich freuen kann. Und vielleicht sind dann auch die Kulturarbeiter wieder so weit, ihr Publikum über Inhalte zu informieren, anstatt plakative Behauptungen mit „Warnhinweisen“ zu mischen und davon zu behaupten, es handele sich um seriöse Abendzettel.
Michael S. Zerban