Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
KLAVIER-FESTIVAL RUHR
(Diverse Komponisten)
Besuch am
30. Juni und 1. Juli 2023
(Einmalige Aufführungen)
Klavier-Festival Ruhr, Stadthalle Mülheim an der Ruhr, Philharmonie Essen
Kurz vor Abschluss des diesjährigen Klaviers-Festivals Ruhr sorgen mit Grigory Sokolov in Mülheim an der Ruhr und Evgeny Kissin in der Essener Philharmonie zwei stille Giganten der Klavierszene für besondere Höhepunkte. Sehr zur Freude von Franz Xaver Ohnesorg, der Ende des Jahres nach 28 erfolgreichen Jahren als Intendant des Festivals das Zepter an Katrin Zagrosek weiterreichen wird. Und natürlich zur Freude der vielen Anhänger der Künstler, die sich nach den anspruchsvollen Konzerten mit einer irritierend fordernden Vehemenz noch ganze Zugabensträuße erklatschen. So lässt sich Sokolov zu sechs Zugaben erweichen, Kissin auch noch auf drei.
Und das, obwohl oder weil Sokolov bei seinem 25. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr mit Werken des englischen Barockmeisters Henry Purcell und Wolfgang Amadeus Mozarts einen ganzen Abend ohne jeden virtuosen Kraftakt und effektvollen Muskeleinsatz auf Fingerspitzen gestaltet und mit Mozarts todtraurigem Adagio in h-Moll KV 540 einen denkbar unspektakulären Schlusspunkt setzt. Dass er das Programm einschließlich drei stilistisch recht ähnlich gestrickter Suiten Henry Purcells unter Spannung halten kann, ist seiner unerschöpflich differenzierten Anschlagskultur zu verdanken.
Foto © Peter Wieler
So minimalistisch geht Kissin nicht vor. Er präsentiert mit Werken von Bach, Mozart, Chopin und Rachmaninow einen kleinen, aber gehaltvollen Streifzug durch die Geschichte der Klaviermusik. Ein Programm, das denkbar unterschiedliche stilistische Anforderungen an den Pianisten stellt, denen Kissin mit gewohnter Souveränität gerecht wird.
Bewundernswert, wie er die extrem komplexen Stimmverläufe der Chromatischen Fantasie und Fuge von Johann Sebastian Bach trotz zügiger Tempi mit röntgenhafter Transparenz freilegt und dabei sowohl den improvisatorischen Tonfall der Fantasie als auch die formale Strenge der Fuge zu ihrem Recht kommen lässt. Problemlos gelingt ihm der Wechsel in die kristallin klare Klangwelt der relativ schlichten Sonate in D-Dur KV 311 Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit konzentrierter Intensität, aber ohne jeden Ausbruch zu gestalterischen Extremen lässt Kissin das Werk in filigran polierter Schönheit erstehen, um danach für Chopins Polonaise in fis-Moll op. 44 umso kraftvoller in die Tasten zu greifen. Aufgrund ihrer düsteren und wenig einschmeichelnden Stimmung gehört sie nicht zu den beliebtesten Nummern des Polonaisen-Zyklus‘ und Kissin versucht nicht im Ansatz, die dunklen Schleier zu überspielen. Mit kompromissloser Schwere meißelt er den charakteristischen Tanzrhythmus heraus und lässt nicht den geringsten parfümierten Salon-Geruch aufkommen.
Nach der Pause sorgt Kissin mit einer Auswahl verschiedener Stücke von Sergei Rachmaninow für ein weiteres Wechselbad der Gefühle. Beginnend mit einer duftigen Klavierversion des Liedes Flieder über zwei schroff kontrastierende Préludes bis hin zu fünf Études tableaux aus op. 39, die von feinsten poetischen Zärtlichkeiten bis zu bruitistischen Exzessen alles enthalten, was sich auf einem Flügel hervorbringen lässt. Bei Kissin alles mit der kontrollierten Disziplin eines Meisters, dem seine spieltechnische Perfektion genügend Freiräume lässt, um selbst die heikelsten und wüsteten Passagen zu bändigen.
Entsprechend hymnisch fällt der Beifall des enthusiastisch jubelnden Publikums aus, bevor das Klavier-Festival mit einem Konzert der Pianistin Maki Namekawa und des MDR-Sinfonieorchesters in der Wuppertaler Stadthalle, unter anderem mit der Uraufführung eines neuen Klavierkonzerts von Philip Glass, schließen wird.
Pedro Obiera