O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sven Lorenz

Aktuelle Aufführungen

Extravaganz contra analytische Weitsicht

KLAVIER-FESTIVAL RUHR
(Ivo Pogorelich, Pierre-Laurent Aimard)

Besuch am
1. und 5. Oktober 2020
(Einmalige Aufführungne)

 

Philharmonie Essen, Stadthalle Mülheim an der Ruhr

Ivo Pogorelich und Pierre-Laurent Aimard gehören zur Weltspitze der Pianisten-Szene. Im direkten Vergleich trennen die beiden Welten voneinander.

Als „genialisch“ kündigt Intendant Franz-Xaver Ohnesorg den Pianisten Ivo Pogorelich vor dessen zehnten Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr in der „ausverkauften“ Essener Philharmonie an. Wobei Genies es dem Publikum nicht immer leicht machen, wie auch die bizarre Karriere Pogorelichs zeigt. Mit außergewöhnlich inspirierten und eigenwilligen Chopin-Interpretationen katapultierte sich der Musiker vor 40 Jahren mit seinem denkwürdigen Auftritt beim Warschauer Chopin-Wettbewerb in die Champions-League der Pianisten. Allerdings nahm seine Eigenwilligkeit so irritierende Züge an, dass er Chopin & Co. mit beinhartem Anschlag in Stein zu meißeln und in Zeitlupentempi formale und melodische Verläufe radikal aufzulösen begann. Die Eindrücke seiner letzten, mittlerweile acht Jahre zurückliegenden Auftritte an der Ruhr konnten nicht durchweg begeistern.

Foto © Sven Lorenz

In Essen startet er sein Programm mit Bachs Englischer Suite Nr. 3 in g-Moll BWV 808 und das Prélude lässt auf einen differenzierteren Umgang mit der Musik hoffen. Mit frischem Tempo und kontrolliertem Anschlag scheinen die extremen Exzesse der Vergangenheit vergessen. Doch im Verlauf des sechssätzigen Werks stellte sich eine Lesart ein, die die Melodiestimme mit hartem Anschlag aufdringlich in den Vordergrund rückt und die Begleitstimme wie störenden Ballast zurückdrängt. Und die zerdehnte Sarabande zerfällt vor lauter extravaganten Temposchwankungen in einen formlosen, kaum nachvollziehbaren Monolog.

Düstere Vorboten, die sich in den folgenden Chopin-Beiträgen katastrophal auswirken. Das spezifische Kolorit der Barcarolle op. 60, deren charakteristisch wiegender Rhythmus und der melodische Gehalt des Werks erstarren in einer maskenhaft kühlen, starren Demonstration unendlicher Langsamkeit. Selbst das schlichte Prélude in cis-Moll op. 45 verliert jede Kontur und innere Logik.

Dass Pogorelich über eine herausragende Anschlagstechnik verfügt, beweist er abschließend mit Maurice Ravels in 1000 Farben schillernder Suite Gaspard de la nuit. Das extrem schwierige Scarbo bereitet ihm auch in zügigen Tempi keine Probleme. Auch klanglich gab es einiges zu bewundern. Allerdings zelebriert er vor allem die beiden ersten langsamen Sätze mit einer starren Pose, die die Freude über die klanglichen Raffinessen relativiert.

Das Publikum folgt dem anstrengenden Vortrag mit äußerster Disziplin und reagiert so begeistert, dass es – ohne Erfolg – eine Zugabe einfordert, die nach dem anspruchsvollen Ravel-Beitrag jedoch unangebracht wäre.

Vier Tage später folgt ein Programm, wie man es von Pierre-Laurent Aimard erwarten darf: Bei seinem 28. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr stemmt er zwar nicht monumentale Schlachtrösser wie Beethovens Hammerklaviersonate und Charles Ives‘ Concord Mass wie vor drei Jahren in Duisburg. Aber Beethovens nicht weniger anspruchsvoller Appassionata nahtlos die hammerharten Eingangsakkorde von Karlheinz Stockhausens Klavierstück IX folgen zu lassen, das traut sich kaum ein anderer seiner Kollegen.

Das auf den ersten Blick bizarre Programm mit Werken von Olivier Messiaen, Beethoven und Stockhausen ist natürlich minutiös durchdacht und folgt Aimards ästhetischer Leitfrage, die er dem Publikum in der „ausverkauften“ Mülheimer Stadthalle im Zugabenteil expressis verbis stellt: „Wer ist moderner? Beethoven oder Ligeti?“ Ob Klassik oder Avantgarde, Aimard ist an der Aufbruchstimmung interessiert, mit der die großen Meister aller Zeiten verkrustete Traditionen einrissen und einreißen und möchte zugleich Klischees und Vorurteile entkräften. Und nicht nur das. Er ist auch in der Lage, diese Botschaft überzeugend vermitteln zu können.

Wie radikal Beethoven in seiner Appassionata mit den auf Mäßigung und Symmetrie ausgerichteten Prinzipien seiner Zeit aufräumte, vermittelt er mit seinem unter Hochspannung stehenden, gleichwohl kontrollierten Spiel in jedem Takt. Zugleich entlockt er dem Klavierstück IX des Bürgerschrecks Stockhausen sanfte Klänge und Farben, die eine Brücke zu den magischen Klangwundern Olivier Messiaens schlagen. Zwei filigran gestrickte Miniaturen aus Messiaens Catalogue d’oiseaux, die Heidelerche und der Waldkauz, umrahmen Beethovens Mondschein-Sonate, die in Aimards Interpretation mit ihrem fantasieartig präludierenden Kopfsatz und dem stürmisch attackierenden Finale nicht weniger zukunftsweisend klingt als die Appassionata und die jüngeren Werke.

Im Zugabenteil mit der direkten Kopplung von drei schlichten Bagatellen Beethovens mit drei Miniaturen aus György Ligetis Musica ricercata belegt Aimard seine These, dass Modernität keine Frage der Entstehungszeit sei, so komprimiert wie unter einem Brennglas.

Auch in Mülheim besticht Aimard wiederum nicht nur mit seinen phänomenalen pianistischen Fähigkeiten, sondern verhilft zu tieferen, oft überraschenden Einblicken in die Welt der Musik.

Pedro Obiera