O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Totentänze in dunklen Zeiten

KEEP MOVING!
(Ben van Cauwenbergh et al.)

Besuch am
24. Oktober 2020
(Premiere)

 

Aalto-Ballett-Theater, Essen

Einen abendfüllenden Klassiker wie John Crankos Shakespeare-Adaption Der Widerspenstigen Zähmung, mit der das Essener Aalto-Ballett die Saison glanzvoll eröffnen wollte, lässt die Pandemie derzeit nicht zu. Einschüchtern lässt sich Ballettdirektor Ben van Cauwenbergh von den Einschränkungen jedoch nicht. Keep Moving! nennt er das Ersatzprogramm, zusammengesetzt aus fünf kurzen Choreografien, die zwischen 1946 und 2019 entstanden sind. „In Bewegung bleiben!“ heißt die Maxime übersetzt, mit der van Cauwenbergh auf die Krise reagiert. Und das Eingangsstück, Aporie von Iris Bouche aus dem Jahre 2011, zeigt 18 Tänzerinnen und Tänzer, die, wie aus einer langen Zwangspause erwachend, allmählich ihre eingerosteten Glieder in Bewegung setzen und mit beschleunigendem Tempo einen virtuosen Wirbel kleiner Gesten und Bewegungen in fast perfekter Synchronität entfachen. Eine tänzerisch anspruchsvolle und am Ende höchst vitale Aufwärm-Etüde, der mit On the Nature of Daylight ein dunkler Kontrapunkt gesetzt wird. Dahinter verbirgt sich die Sterbeszene Desdemonas aus dem großartigen Essener Othello-Ballett von Denis Untila und Michelle Yamamoto, die den Blick auf den Tod richtet. Ein schwarzer, äußerst intensiver, zwischen Zärtlichkeit und Aggressivität lancierender Pas de Deux von ungebrochen packender Eindringlichkeit. Glänzend ausgeführt von Yuki Kishimoto und Yegor Hordiyenko.

Besonders viele Fans unter den 250 zugelassenen Premierenbesuchern scheint Armen Hakobyan zu haben, der, wie auch Untila und Yamamoto, dem Essener Ballett als Tänzer und Choreograf seit langem eng verbunden ist und für sein Stück Many a Moon die meisten Bravo-Rufe verbuchen kann. Die kraftvolle, expressive Körpersprache, die sowohl den anfänglich schnell und unruhig pulsierenden Ensemble-Teil als auch im Finale den ruhigen, zeitlich fast auf der Stelle tretenden Pas de Deux von Adeline Pastor und Davit Jeyranyan bestimmt, wirkt in ihrer Düsternis nicht weniger suggestiv als der Ausschnitt aus dem Othello-Ballett. Auch wenn der Bezug zur Schlüsselfrage Armen Hakobyans, „Wieviel Zeit braucht die Liebe und was macht sie aus ihr?“, unscharf bleibt.

Hakobyans Many a Moon, im letzten Jahr erst vom Stuttgarter Ballett aus der Taufe gehoben, stellt die jüngste Arbeit der fünf Stücke dar, Roland Petits Klassiker Le Jeune Homme et la Mort – Der junge Mann und der Tod – aus dem Jahr 1946 die älteste. Ebenfalls ein Pas de Deux, wie der Othello mit mortalem Ausgang, der durch die wuchtige, strenge Passacaglia Johann Sebastian Bachs allerdings schroffer und bedingungsloser wirkt als On the Nature of Daylight mit den romantisch weichen Klängen von Max Richter. Bei Petit wird ein junger Künstler durch eine schöne, von ihm angehimmelte Frau immer wieder zurückgewiesen und schließlich in den Suizid getrieben. Jetzt erscheint die Frau als personifizierter Tod und führt ihn hinaus aus der Mansarde über die Dächer von Paris.

Martin Carlos Nudo und Mariya Tyurina gestalten den Totentanz ebenso eindrucksvoll wie zuvor Elisa Fraschetti und Ige Cornelis den burlesken Ehestreit in Ben van Cauwenberghs Choreografie Heimspiel. Ein grotesk-ironischer Kommentar zu den tragischen Beziehungsdramen der anderen Stücke. Zum aggressiv hämmernden Scherzo aus Anton Bruckners Neunter Symphonie gerät ein Ehepaar beim Frühstück in Streit, geht auseinander und findet sich am Ende, nicht weniger gelangweilt als zuvor, wieder zusammen. Frustriert, aber wenigstens lebendig.

Insgesamt eine abwechslungsreiche, unterhaltsame und anspruchsvolle Sammlung kleiner Stücke auf hohem tänzerischem Niveau.

Pedro Obiera