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Aktuelle Aufführungen

Ein seltsamer Freund

JUDAS
(Lot Vekemans)

Besuch am
7. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Rabbit-Hole-Theater, Essen

Mit der Bibelübersetzung von Martin Luther ist nicht nur das Glück verbunden, eine deutschsprachige Bibel zu haben, die ab 1534 jeder, der des Lesens mächtig war, „verstehen“ konnte. Sondern mit dem Bemühen, eine möglichst einfache Sprache zu finden, schlichen sich in die Übersetzung auch Fehler oder Interpretationen ein, deren Folgen mitunter fatal waren. So wurde beispielsweise aus Judas Iscariot statt desjenigen, der nach damaliger Gesetzgebung vollkommen zurecht einen mutmaßlichen Straftäter den Behörden überlieferte, schlicht der Verräter Jesu. Mit der massenhaften Verbreitung der Luther-Bibel hat sich mindestens im evangelischen Glauben bis heute die Auffassung verfestigt, dass der Anhänger des damals 33-jährigen Glaubensverkünders ihn verriet. Mit einem Kuss! Ob und inwieweit es sich dabei um einen Übersetzungsfehler oder eher einen grandiosen Schachzug des großen Vereinfachers handelte, sei dahingestellt.

Mindestens die Älteren wissen noch wie heute, wie ihnen die Figur des Judas im Religionsunterricht der Grundschule und später im Konfirmandenunterricht vorgestellt wurde. Er war derjenige, der Jesus mit einem Bruderkuss an die Regierungsschergen verriet und dafür den „Judas-Lohn“ von 30 Silberlingen erhielt. Bis heute unvergessen die Empörung des Kindes. Verrat! Mit einem Bruderkuss – auch wenn in dem Alter noch niemand so genau wusste, was so ein „Bruderkuss“ war. Aber dass infolgedessen der Heiland eines unwürdigen Todes starb, hat sich den Kindern tief ins kollektive Gedächtnis gegraben. Warum sich mit dieser schändlichen Person noch weiter auseinanderzusetzen? Auch wenn in der modernen Theologie längst ein sehr viel differenzierteres Bild des Judas Einzug gehalten hat, bleibt die Behauptung vom Verräter in der Welt der Gläubigen zumeist unwidersprochen. Feindbilder helfen auch in der Religion.

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2012 erschien bei Kiepenheuer das Stück Judas. Lot Vekemans, 1965 im niederländischen Oss geboren, studierte zunächst Sozialgeografie in Utrecht und absolvierte eine Ausbildung als Theaterautorin in Amsterdam. Sie arbeitete als Journalistin, bis sie sich 1999 gänzlich für das Theater entschied. Daraufhin erschienen in rascher Folge etliche Theaterstücke von ihr, viele von ihnen preisgekrönt. Heute lebt Vekemans in Frankreich und Belgien. Das einstündige Stück Judas ist ein Monolog, der bislang viel zu wenig Verbreitung gefunden hat, obwohl nach diesem Abend jeder weiß, dass er eigentlich mindestens auf jede Kammerbühne im deutschsprachigen Raum gehörte.

Vekemans versucht, von der ersten Sekunde an, den Zuschauer in das Geschehen miteinzubeziehen, was für den Darsteller eine besondere Herausforderung bedeutet. Und damit erfolgt der nahtlose Wechsel ins Rabbit-Hole-Theater am Viehofer Platz in Essen. Hier hat sich wohl schon herumgesprochen, dass Dominik Hertrich das Stück bereits einmal sehr erfolgreich aufgeführt hat. Jedenfalls ist das kleine Theater bis auf den allerletzten Platz besetzt. In dem „Wohnzimmertheater“ findet das Stück zum ersten Mal statt. Der Bühnenraum ist komplett schwarz ausgeschlagen und verkürzt. Das Klavier, das bei anderen Stücken zur Verstärkung eingesetzt wird, verschwindet hinter dem Vorhang. Stattdessen ist nun ein E-Piano auf der rechten Seite aufgebaut. Mehr braucht es an diesem Abend nicht.

Für den Raum respektive das Licht zeichnet Christian Freund verantwortlich. Für die unauffälligen Lichtwechsel, die das Geschehen dramaturgisch untermalen, hat das Publikum allerdings kein rechtes Auge, zu schnell wird es in den Bann der Erzählung hineingezogen. Dafür sorgt auch Regisseur Jens Dornheim, der dem Protagonisten im ursprünglichen Stück nicht vorgesehene Musik unterlegt. Geschrieben hat die Passagen, die die Dramatik fabelhaft unterstreichen, Danny-Tristan Bombosch, der auch am Klavier sitzt und mithin eine kleine Statistenrolle übernimmt. Aber alle Beigaben nutzen einem Monolog nicht, wenn der Darsteller hier nicht absolut sattelfest ist. Hertrich gelingt hier eine Glanzleistung! Neben absoluter Textsicherheit – es gibt in der Stunde keinen Hänger, das muss man mal bringen – gelingt es ihm, ohne Deklamation Vekemans‘ Intention bravourös umzusetzen. Die will nämlich weder Rechtfertigung noch Reinwaschung zulassen, sondern die Geschichte so erzählt wissen, dass der Zuschauer überhaupt nicht mitbekommt, dass sie sich vor knapp 2000 Jahren zugetragen haben soll. Da fällt dem Darsteller bei der Abrechnung der Abendkasse auf, dass sich irgendjemand „für lau“ unter das Publikum gemischt hat. Die Betrüger und Gauner sind also keineswegs ausgestorben, sondern sitzen mitten unter uns. Aber wer will über sie richten? Als Besucher spürt man schon jetzt ein leichtes Unbehagen.

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Dazu gesellt sich bei einem Exkurs über Glauben und Zweifel Nachdenklichkeit. Vor allem aber verliert sich jede Spur von alter Geschichte, wenn Judas davon erzählt, dass das mit dem Messias gar nicht so ungewöhnlich ist. Jährlich bis zu fünf, manchmal bis zu sieben solcher Wunderprediger machen die römischen Behörden dingfest. Sie laden solche Menschen nicht in Talkshows ein, sondern richten sie hin, um so das Volk im Zaum zu halten und Unruhen zu vermeiden. Jesus war also, erzählt sein Freund, so bezeichnet Judas sich zumindest selbst, keineswegs so ungewöhnlich, wie wir ihn heute dargestellt bekommen. Er war einer von vielen, und so erklärt sich auch, warum ihn die Zeitgenossen nicht gleich als Heiligen erkannten. Trotzdem gelang es ihm, wie auch anderen Predigern, hunderte von Anhängern um sich zu scharen – die allerdings schwiegen, als es hart auf hart kam. Hätten sie die Kreuzigung womöglich verhindern können, wenn sie nicht vor der Obrigkeit gekuscht hätten? Nein, das sind keine gestrigen Fragen.

Und so vergeht auch so manchem im Raum die Bewunderung der Souveränität Hertrichs, mit der er einige Personen im Publikum namentlich anspricht, um zu erfahren, ob sie bereit wären, ihm die Last seines Namens abzunehmen, sich selbst heute trauten, den Namen anstatt des eigenen zu tragen. Judas Iscariot, der Name eines Mannes, der sicher nicht alles im Leben hundertprozentig richtig gemacht hat, aber vielleicht doch auch nicht der gewissenlose Verräter ist, der für ein paar „verseuchte Silberlinge“ für ein vorzeitiges Ableben des Weltenretters sorgte.

Vollkommen zu Recht kann Hertrich sich kaum der Begeisterung erwehren, die ihm beim Schlussapplaus zuteilwird. Eine exorbitante Leistung, vor der man nur den Hut ziehen kann. Und so wird es bei der anschließenden Feier wohl wieder einmal sehr spät im Rabbit-Hole-Theater.

Michael S. Zerban