O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Kirsten Nijhof

Aktuelle Aufführungen

Das Glück der Verstellung

LA FINTA GIARDINIERA
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
7. Oktober 2021
(Premiere am 2. Oktober 2021)

 

Aalto-Musiktheater Essen

Sie kennen Der Wojwode von Peter Tschaikowski? Sie schätzen Die Feen von Richard Wagner? Sie lieben Guntram von Richard Strauss? Was diese drei Werke, willkürlich ausgewählt, eint? Es sind frühe Kompositionen von späteren Meistern ihres Metiers. Werden sie schon einmal aufgeführt, was selten der Fall ist, müssen sie damit leben, als pure Vorstufen von Werken betrachtet zu werden, die es zur vollendeten Meisterschaft und damit dauerhaft ins Repertoire geschafft haben. Kritisch beäugt nach Spuren, die bereits auf Größeres in der Zukunft verweisen. La Finta giardiniera des 18jährigen Wolfgang Amadeus Mozart ist solch eine Schöpfung der Marke Frühwerk nicht. Sie ist mehr.

Genauer. Das dreiaktige Dramma giocoso, im Auftrag des Kurfürsten von Bayern für den Münchner Fasching 1775 entstanden, ist der siebte Versuch des jugendlichen Mozart, den Olymp der Oper zu erklimmen. Hierauf weist auch mit KV 196 die niedrige Ziffer im Köchel-Verzeichnis hin. Zugleich ist die komödiantische Farce im Fabelreich von Lagonero eine Oper, die es verdient, unabhängig von ihrem Stellenwert im schöpferischen Entwicklungsprozess gesehen zu werden. So stellt Regisseur Ondřej Havelka Die Gärtnerin aus Liebe – so die gebräuchliche deutsche Übersetzung – auf die Bühne des Essener Aalto-Theaters. Und so löst die erste Neuinszenierung der aktuellen Spielzeit den latenten, manchmal offen kommunizierten Anspruch jedes wenigstens mittelgroßen Musiktheaters ein, mehr zu bieten als Produktionen middle of the road.

Der Gütestempel Dramma giocoso ist für die Geschichte, in der sich Mozart erstmals über den Standard seiner Zeit, die italienische Nummernoper, hinaus erprobt, fast eine Untertreibung. Das Textbuch des römischen Librettisten und Dichters Giuseppe Petrosellini, auch Autor der lediglich in Fragmenten erhaltenen früheren Mozart-Buffa Lo sposo delusa, spottet eigentlich jeder veristischen Überprüfung. Es beruht auf einem wahrhaft verblüffenden Einfall. Ein aristokratischer Liebhaber in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt an, in einer heftigen Auseinandersetzung seine Geliebte umgebracht zu haben. Nun begegnet er am Hofe des Podestà der Totgeglaubten wieder. An einem Ort, an dem Liebende und Verstoßene, Günstlinge des Schicksals und von diesem Verschmähte um eine neue Chance im Leben ringen. Eine Arena der Täuschung und Verstellung.

Verstellen heißt sich erkennen. Dieser Aphorismus stammt von dem portugiesischen Dichter Fernando Pessoa. Nach diesem Erkenntnisprinzip läuft dann auch die elementare Schule der Liebe. So sieht das Multitalent Havelka, in Tschechien auch als Entertainer und Schauspieler bekannt, das ewige Spiel um Glück und Schmerz. Und so läuft dann auch mit großer Begabung für alles Komödiantische und viel Herz für die Figuren des Dramas seine Inszenierung ab, die erste außerhalb seiner Heimat. Il cor, das Herz, ist ohnehin das Schlüsselwort des Werks. Schon in der ersten Szene „hüpft es mir vor Vergnügen“, lässt der Podestà, der Hausherr des Palastes von Lagonero, wissen. Und im dritten Finale lassen alle die Gärtnerin hochleben, „die ihr Herz treu gehalten“.

Die Aalto-Drehbühne ermöglicht dem Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann, sich auf gleich vier Quadranten nach Herzenslust auszutoben. Ganz im Stil der aristokratischen Parkkultur der liebliche Garten mit der breiten Treppe nach oben, wie sich Petrosellini den Schauplatz für den ersten Akt vorgestellt hat. Großzügig und hell Salon und Bibliothek. Die von Jana Zbořilová ersonnenen Kostüme unterstreichen den spielerischen Umgang mit dem Personal der Komödie. Havelka, dem eine ausgezeichnete Personenregie gelingt, spielt gern, aber nicht übertrieben mit den Protagonisten. Die Rückenschmerzen, die nun mal Gartenarbeit bereiten können – hier Sandrina alias Gräfin Violante Onesti – eine dem Schwanenkult nachempfundene Gondel als Gefährt für einen romantischen Heiratsantrag und eine mal schräg liegende, dann wie von Zauberhand aufgerichtete Zypresse erlauben allerlei bühnenwirksame Scherze.

Schon in den ersten Minuten wartet La finta giardiniera mit einem trefflichen Einfall auf. Der schwungvollen Ouvertüre lässt Mozart das Quintett Che lieto giorno folgen, quasi ein Vorstellungssingen von fünf der sieben Protagonisten. Von Sandrina und Serpetta, vom Podestà, von Ramiro und dem Diener Nardo, unverstellt Roberto, Diener der Gräfin. Arminda und ihr aktueller Liebhaber, Graf Belfiore, stoßen später hinzu. Unter diesen glorreichen Sieben entwickelt sich ein munteres, freilich von Längen nicht ganz freies Verwirrspiel, das am Ende in das sprühende Finale Viva pur la Giardiniera einmündet. Mit drei glücklichen Hochzeitspaaren und einem Podestà, der ebenfalls zu heiraten gewillt ist, „sobald ich eine andere Sandrina finde“.

Für einen gerade 18-jährigen ein erstaunlich souveräner Umgang mit der Formung von Arien und Ensembles bei adäquater Beherrschung des Orchesters, möchte man meinen. Nicht aber für Mozart. Unter dem Eindruck der Uraufführung schreibt der Komponist und Journalist Christian Friedrich Daniel Schubart: „Wenn Mozart nicht eine im Gewächshaus getriebene Pflanze ist, muß er einer der größten Komponisten werden, die je gelebt haben.“ Wie Schubart beeindruckt auch das heutige Publikum Mozarts Variationsreichtum im Neben- und Miteinander von Buffa- und Seria-Elementen, für die der Begriff Opera semiseria erfunden worden ist.

Seine ausgeprägte Charakterzeichnung hält neben den Buffa-Partien und den Quasi-Buffa-Partien noch als Überraschung eine reine Seria-Rolle bereit. Die des Cavaliere Ramiro, von Mozart ursprünglich für einen Kastraten geschrieben. In Essen beglückt als Ramiro die Mezzosopranistin Alexandra Kadurina mit vokaler Hingabe und inbrünstiger Spielfreude. Wunderschön die klangmalerische Arie des von einem neuen „Liebeshandel“ schwärmende Ramiro Se l’augellin sen fugge, die sie zu Beginn intoniert. Das Flügelflattern der Vöglein durchzieht dabei in gekonnten Koloraturen den vokalen Vortrag, ist nicht zuletzt in den Violinen zu vernehmen.

Das Ensemble der Sängerdarsteller erweist dem jungen Mozart eine prächtige sanguine Referenz. In der Titelrolle überzeugt Giulia Montanari mit charmanter Ausstrahlung, unbezwingbarem Temperament und virtuoser Koloraturentechnik. Mit der Cavatine Geme la tortorella, dem Lied von der seufzenden Turteltaube im ersten Akt, und der Klagearie Crudeli fermate crudeli im zweiten stellt die Sopranistin ein breit gefächertes Stimmpotenzial unter Beweis. Als Don Anchise, Podestà von Lagonero, agiert Richard Samek einige Nuancen zu polternd und auf die mittlere Stimmlage vertrauend etwas eindimensional. Dmitry Ivanchey als Graf Belfiore, Sophia Brommer als Arminda sowie Christina Clark als Serpetta und Tobias Greenhalgh als Nardo, die sich am Ende finden, arrondieren einen stimmigen Mozart-Abend.

Die Essener Philharmoniker unter Tomáš Netopil, dem Generalmusikdirektor, am Pult bewältigen in relativ schmaler Besetzung die Partitur mit großem Gespür für diesen perlenden Mozart. Sie beweisen sich ganz besonders in den Finali der ersten beiden Akte, die weit über die damalige Kompositionskonvention hinaus reichen. Sie nehmen nicht nur den späteren Mozart, vielmehr auch Rossini in dessen italienischer Glanzzeit vorweg.

Das Publikum im Aalto-Theater dankt allen Mitwirkenden für das Mozart-Geschenk mit anhaltendem Beifall. Der klingt nur scheinbar etwas schwach, weil Parkett und Ränge unter Corona-Bedingungen derzeit noch nur knapp zur Hälfte belegt werden können. Gemessen daran ist die Resonanz voller Empathie und Respekt. Mit dieser Finta giardiniera hat die Oper Essen einen erfreulichen Spielzeitauftakt hingelegt. Das sei mit Mozart immer leicht? Mag sein, man muss es aber auch können.

Ralf Siepmann