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Wenn der Teufel tanzt

FAUSTO
(Louise Bertin)

Besuch am
27. Januar 2024
(Premiere)

 

Aalto-Musiktheater, Essen

Die deutsche Erstaufführung einer von einer französischen Komponistin verfassten Oper rund 200 Jahre nach ihrer Premiere in Paris. Die Umbesetzung einer der beiden Hauptpartien gleichsam in letzter Minute, auf das Vokale beschränkt. Die szenische Übernahme dieser Rolle durch die Regisseurin. Die Vorstellung der Oper Fausto von Louise Bertin am Essener Aalto-Musiktheater geht unter ungewöhnlichen Vorzeichen über die Bühne. Ungewöhnlich wie vieles, was Werk und Künstlerin ausmacht.

Innerhalb von zwei Wochen präsentieren Musiktheater im Ruhrgebiet Werke von Komponistinnen, die im 19. Jahrhundert gefragt sind, zumindest auf Zeit. Die Dortmunder Trouvaille ist die Lyrische Oper La Montagne Noire von Augusta Holmès, 1895 am Théâtre National de l’Opéra uraufgeführt. Der Wiederentdeckung am Essener Haus, 1831 am Théâtre-Italien uraufgeführt, macht zumindest mit einem erstaunlichen, wahrscheinlich verkannten Kapitel Musikgeschichte im Übergang vom Belcanto zur Grand Opéra vertraut.

Zugleich bringt sie exemplarisch die gelegentliche Überwindung männlicher Vorurteile gegenüber Künstlerinnen in Erinnerung, die fast ausschließlich zu ihrer Zeit auf das Ghetto der Komposition von Liedern und Musiken für die Kammer beschränkt werden. Gemeinsam ist beiden Frauen, dass ihre Stücke nach wenigen Vorstellungen aus den Spielplänen verschwinden und sie wie ihre Urheberinnen weitgehend vergessen werden.

Das bürgerliche Frankreich befindet sich nach 1808, dem Jahr des Erscheinens von Goethes Tragödie, geradezu in einem Faust-Fieber. Bertin, infolge einer Polio-Erkrankung in ihrer Bewegung erheblich eingeschränkt, sucht nach einer Bestimmung außerhalb der Ehe. Sie findet sie in der Berufung zur Komponistin – zu einer Zeit, da Frauen der Zugang zum Musikstudium verboten oder verwehrt ist. Dank familiärer Unterstützung und hilfreicher Kontakte wie zu Hector Berlioz wagt sich sie sich an erste Opernstoffe.

Weit vor Berlioz, Gounod und Boito, die mit ihren zwischen 1846 und 1868 entstandenen Vertonungen heute für das Faustische auf der Opernbühne stehen, entdeckt sie die dramatischen Qualitäten von Goethes Tragödie. Das Libretto für Fausto verfasst sie selbst. Um am einzigen Theater Frankreichs aufgeführt zu werden, das Stücke in fremden Sprachen zeigt, wird es ins Italienische übersetzt. Bertin ist gerade 26-jährig, als der Vierakter seine Premiere erlebt. Das Publikum reagiert euphorisch. Meyerbeer und Rossini heben die Originalität des Klangs und die dramatische Kraft des Stückes hervor.

Bertin, die ursprünglich, wenn auch vergeblich die berühmten Sängerinnen Maria Malibran als Margarita und Rosmunda Pisaroni für die Hosenrolle des Fausto zu gewinnen sucht, greift nach den Sternen. Sie arbeitet für ihre Komposition La Esmeralda mit Victor Hugo zusammen, auf dessen Roman Der Glöckner von Notre-Dame der Stoff beruht. Ein Eklat in der sechsten Vorstellung, ausgelöst von Hetzern gegen Komponistinnen, trägt wesentlich dazu bei, ihre Laufbahn im Fach der Oper zu beenden. Da ist Bertin 31 Jahre alt.

Als würden die Turbulenzen um den historischen Fausto heute eine Fortsetzung finden wollen, fällt die für die Partie der Margarita vorgesehene Sopranistin Jessica Muirhead krankheitsbedingt kurzfristig aus. Mit der Sopranistin Netta Or wird eine Sängerin gefunden, die sich in der Lage sieht, die Partie vom Bühnenrand zu singen. Die Regisseurin Tatjana Gürbaca übernimmt den szenischen Part auf der Bühne, was den unschätzbaren Vorteil hat, dass sie die interpretatorischen Anforderungen am ehesten kennt. Um es direkt zu sagen: Die Improvisation beschert zwar mit dem Pult an der Seite einige visuelle Stolperer, löst aber im Ablauf keine wirklichen Brüche aus. Insgesamt eine herausragende Leistung beider Einspringerinnen.

Das Faust-Sujet bezieht seine epochale Wirkung aus der Verbindung der Tragödie des Gelehrten, der an die Grenzen des Erkennbaren und seiner Kräfte gelangt, mit dem Schicksal der jungen Frau, die den repressiven gesellschaftlichen Normen widerspricht und mit Ausgrenzung bestraft wird. In Bertins Textvorlage wird Margarita aus ihrer bloßen Opferrolle befreit, emanzipiert sie sich zur selbstbewussten Frau. Ähnlich nimmt auch Gürbacas Inszenierung eine Akzentverschiebung vor. Es ließe sich von jener Wandlung sprechen, die der Germanist Gunter E. Grimm in seiner Analyse der verschiedenen Faust-Opern aufgespürt hat. Danach passt sich der Stoff den jeweils herrschenden mentalen Paradigmen an, verändert er seinen Charakter wie seine Aussage. Das aktuelle Paradigma, nicht das einzige, aber ein wesentliches, besteht im Denken in Gender-Kategorien, das insbesondere im Kulturbetrieb zu beobachten ist.

Gürbacas Regie folgt dem Libretto Bertins, mithin prinzipiell Goethes Drama, bettet indes die Geschichte der unmöglichen Affäre in einen klinischen Kontext ein. Dessen formale Muster und dramatische Handlungen orientieren sich an Krankenhausserien des Unterhaltungsfernsehens. Hauptschauplatz ist eine typische, vom Bühnenbildner Marc Weeger eingerichtete Klinikstation mit Chefarzt-Separee, Vorzimmer und gegen den Hintergrund ansteigender Wartezeile. Für einen Farbakzent sorgt ein Baum hinter Glas, der mit seinem üppigen Grün auf den biblischen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verweist. An diesem Ort begegnet der Doktor Fausto, hier Mediziner, der Krankenschwester Margarita. Die ersucht ihn, Catarina, ihre Freundin, zu behandeln, die Nataliia Kukhar mit Elan und Frische spielt.

Der Stationsarzt alias Fausto braucht also nicht wie bei Goethe den Pakt mit dem Teufel, um mit der jungen Frau Ablenkung in sein ödes Leben zu bringen. Mefistofele ist zwar anwesend, liegt aber regungslos wie eine zur Obduktion bestimmte Leiche seitlich auf einer Stellage. Er erwacht erst, nachdem ihn Fausto in einem dramatischen Kniefall flehentlich um Beistand gebeten hat. Der Teufel, der sich dann zur Tat aufrappelt, ist kein Emissär der Hölle. Vielmehr, was er in dieser Inszenierung mit Wonne ausspielen darf, ein sehr menschlicher Mephisto, der sich von weiblichen Reizen verführen und sogar zu einem Tanz verlocken lässt.

Das Momentum des Regieansatzes, zu den Protagonisten eine komödiantische Beziehung aufzubauen, eine Opéra comique en miniature sozusagen, nimmt zwar der Tragödie einen Teil ihrer bildungsbürgerlichen Schwere. Das hat aber Folgen für die Charakterisierung der Personen, bis in die Nebenrollen. So tritt Wagner, den Baurzhan Anderzhanov mit spielerischer Lässigkeit gibt, nicht mehr als Schüler Faustos auf, sondern als fertiger Stationsarzt im weißen Kittel. Die Kostüme von Silke Willrett im Stil der Jahre, in denen das Fernsehen seinen Siegeszug antritt, tragen dazu bei, den Retro-Look der Produktion zu unterstreichen.

Vollends außer Rand und Band gerät die Inszenierung im Finale des dritten Akts. Fausto tötet Valentino im Duell. Mefistofele übernimmt hier die Regie und erlaubt sich einen Spaß. Ein Badmintonschläger wird als Florett, Gitarre und Sportvehikel ins Spiel gebracht. Mit dem Bruder Margaritas verschwindet auch der Tenor George Vîrban allzu früh aus Stück und Szene. Bis dahin imponiert er allerdings mit betörender Stimme.

Bertins Partitur schöpft aus dem Vollen, teilt die Vorliebe der damaligen Zeit, insbesondere Meyerbeers und ihres Förderers Berlioz für Horn, Trompete und Posaune, schließt zum Witz der besten Buffo-Opern Rossinis wie Le comte Ory auf, zitiert Mozart und lässt im Orchester wie im Chor Beseeltes im Stil Webers aufscheinen. Das Ganze integriert in eine eigene Stilistik und Orchestrierung mit gekonnter Balance zwischen Bühne und Graben. Unter der musikalischen Leitung von Andreas Spering spielen sich die Essener Philharmoniker in einen Rausch, der von einer Tutti-Explosion mit massivem Tam-Tam-Einsatz aus der Höhe gekrönt wird. Der Opernchor des Aalto, einstudiert von Klaas-Jan de Groot, ist sängerisch wie im Spiel ebenbürtig und große Klasse.

Die Leistung von Mirko Roschkowski als Fausto ist wohl auf dem Hintergrund der besonderen Konstellation mit den Akteurinnen in der Rolle der Margarita zu sehen. Insbesondere in den ersten beiden Akten scheint er ein Stück weit befangen, beschäftigt damit, die eigene Position in der bipolaren Szene auszubalancieren. Nach der Pause agiert der Tenor freier, mit müheloser Höhe bis in das Falsettfach. Er steigert sich im Schlussakt zu einem flehentlichen Ausbruch, der Mefistofele zur Rettung Margaritas bewegen soll. Almas Svilpa ist der am Ende obsiegende Teufel, der gekonnt zwischen Jovialität und Zynismus schwankt, mit seinem markanten Bass der Aufführung Stil und Gepräge verleiht.

Der anhaltende Jubel des Publikums für alle Beteiligten, insbesondere für die beiden Retterinnen der Aufführung, kann als Wegzeichen in die Zukunft gedeutet werden. Fausto könnte eine bekommen. On verra.

Ralf Siepmann