O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Horn

Aktuelle Aufführungen

Verwirrung und Klarheit

EXTRA LIFE/ABEND- UND MORGENLOB
(Gisèle Vienne, Sergej Rachmaninow)

Besuch am
16. und 18. August 2023
(Premieren)

 

Ruhrtriennale, Salzlager Pact Zollverein Essen, Zeche Zollern Dortmund

Zu lachen gab und gibt es wenig bei der Ruhrtriennale unter der Federführung von Barbara Frey, deren Intendanz im September endet. Selbst ihre Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum konnte es an betrübten Sorgenfalten mit den düstersten Tragödien Shakespeares aufnehmen. Auch die neuen Produktionen der Choreografin Gisèle Vienne und des Chorwerks Ruhr, verlässlichen Kräften, die in der Vergangenheit für denkwürdige Höhepunkte gesorgt haben, drücken aufs Gemüt. Wenn auch mit denkbar unterschiedlichen Resultaten.

Vor zwei Jahren sorgte Vienne mit ihrer Kreation Der Teich für einen ultimativen Höhepunkt der Ruhrtriennale. Die hohe Messlatte, die sie sich damit selbst steckte, kann sie mit ihrem neuesten Stück Extra Life nicht ganz erreichen, das jetzt im Salzlager der Essener Zeche Zollverein aus der Taufe gehoben wurde. Darüber kann auch der freundliche Beifall des leicht erschöpften Premieren-Publikums nicht hinwegtäuschen.

Foto © Katrin Ribbe

Im Gegensatz zum straffer konzipierten Teich zeigt die wiederum entschleunigte, vom Zeitlupentempo bis zum Stillstand reichende Bewegungssprache der alle Gattungsgrenzen zwischen Schauspiel und Tanz sprengenden Choreografin und Regisseurin im Verlauf des mit 110 Minuten zu langen Stücks Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen. Zumindest, wenn der Handlungsfaden so dünn und unkonkret gestrickt ist, dass sich viele Episoden in einem orientierungslosen Vakuum zu verlieren drohen. Wie im Teich, dem eine literarische Vorlage von Robert Walser nachvollziehbare Strukturen verleiht, gehen der Handlung von Extra Life kindliche Missbrauchserfahrungen der beiden Protagonisten voraus. Was sich allerdings nur sehr langsam und erst sehr spät herausstellt.

Zwei mittlerweile erwachsene Geschwister versuchen nach einer durchzechten Nacht, ihre Kindheitstraumata aufzuarbeiten. Vienne entfacht ein Feuerwerk an Szenen, in denen Erinnerungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenprallen. Alles jedoch nur minimal angedeutet und auf Dauer zu nebulös. Eine dritte Person schlüpft in verschiedene, nicht immer identifizierbare Rollen.

Bewundernswert sind wiederum die Leistungen der tanzenden Darsteller, die mit unerbittlicher Konsequenz die komplexen Bewegungsabläufe in kräftezehrender Langsamkeit absolvieren. Mit dabei ist auch die prominente französische Filmschauspielerin Adèle Haenel, die bereits im Teich glänzte und sich als Konsequenz aus ihrem Einsatz als MeToo-Aktivistin mittlerweile völlig aus dem Filmgeschäft zurückgezogen hat. Qualitativ bewegen sich alle drei Darsteller, also auch Theo Livesey und Katia Petrowick, auf gleich hohem Niveau.

Ein altes Auto auf der leeren Bühne des Salzlagers dient als Rückzugsort. Optisch sticht die Lichtregie von Yves Godin mit fantastischen Farbwirkungen ins Auge, die auch als Lichtinstallationen überzeugen könnten. Gipfelnd in kalten Blauduschen und einem aus roten Laserstrahlen geknüpften Netz, in dem sich die Figuren zu verfangen scheinen.

Die psychedelischen, meist wohlig weichen Klänge von Catarina Barbieri tragen wesentlich zum zeitentrückten Eindruck der Produktion bei. Einer künstlerisch überragenden Kreation, die allerdings durch ihre überdehnte Länge und zu viele nebulöse Episoden an Wirkung und Spannung verliert.

Foto © Katrin Ribbe

Mit spürbarer Ergriffenheit reagiert dagegen das Publikum in der ausverkauften Zeche Zollern auf den jüngsten Beitrag des Chorwerks Ruhr im Rahmen der Ruhrtriennale, mit dem das Ensemble erneut seine internationale Klasse bestätigt. Den 150. Geburtstag Sergej Rachmaninows nimmt Florian Helgath zum Anlass, dessen Großes Abend- und Morgenlob opus 37 zur Aufführung zu bringen. Die 15-teilige Vesper ist als tief inspiriertes religiöses Bekenntnis Rachmaninows zu verstehen, das tiefere Einblicke in das Seelenleben des Komponisten zulässt als die meisten seiner bekannteren Klavier- und Orchesterwerke.

Zu begrüßen ist die Werkwahl gerade in einer Zeit, in der man Gefahr läuft, die großen Leistungen der russischen Kultur zu vergessen oder gar zu diskreditieren. Eine Kultur, die oft selbst unter den Repressalien russischer Diktatoren zu leiden hatte und auch aktuell darunter zu leiden hat. Seine Vesper schrieb Rachmaninow 1915. Aufführungen wurden nach der Oktoberrevolution verboten, und der Komponist emigrierte in die USA, endgültig, ohne Rückkehr in sein Heimatland.

Angesichts der für ein A-cappella-Werk ohne instrumentale Unterstützung mit 70 Minuten ungewöhnlichen Länge wird die Vesper oft als „monumental“ angekündigt. Genau das strebt Helgath nicht an. Die überragende Gesangskultur seines Chors erlaubt es ihm, die Dynamik äußerst sensibel und feingliedrig zu dosieren. Ausgehend von einem substanzreichen, klangschönen Piano gelingen die Steigerungen und Höhepunkte ohne jeden forcierten Druck. Dabei kommt ihm die fantastische Akustik der Halle glücklich entgegen, die, erfüllt von den überwiegend introvertierten Gesängen, das an sich abgedroschene Klischee einer „Kathedrale der Arbeit“ in diesem Fall nachvollziehbar bedient.

Die Halle ist zwar kleiner als die Bochumer Jahrhunderthalle oder die Duisburger Kraftzentrale, aber groß genug, um dem Chor auch räumliche Freiheiten zu bieten. So wechseln die Sänger mehrmals ihre Position, um aus verschiedenen Winkeln und Ecken raffinierte klangliche Wirkungen zu erzielen. Alles im Rahmen der spirituellen Kraft der Gesänge, nie im Dienst oberflächlicher Effekte.

Rachmaninow orientiert sich durchgehend am Stil traditioneller orthodoxer Gesänge und verzichtet auf spektakuläre Kontraste oder Experimente, so dass es nicht leicht ist, die bisweilen ähnlich klingenden Teile unter Spannung zu halten. Die Delikatesse in Sachen Homogenität, Intonationssicherheit und Klangsensibilität, mit der das Chorwerk Ruhr immer wieder fasziniert, trägt den Chor auch über die Länge dieses Abends.

Als kleines Experiment zieht man den Trompeter Tom Arthurs hinzu, der den Sängern mit einigen einfühlsamen Solo-Improvisationen ab und zu Gelegenheit zum Durchatmen gibt.

Viel Beifall für eine weitere Meisterleistung des Chorwerks Ruhr und ein musikalischer Höhepunkt der Ruhrtriennale.

Pedro Obiera