O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dana Schmidt

Aktuelle Aufführungen

Historische Aufführungspraxis par excellence

ERÖFFNUNGSKONZERT
(Franz Schubert, Franz Liszt)

Besuch am
24. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Philharmonie Essen

Wenn symphonische Musik der Romantik beziehungsweise Spätromantik von geläufigen Orchestern der Kategorien A und B oder des Rundfunks in der üblichen Besetzung mit 12 bis 16 ersten Geigen fein austariert exzellent gespielt erklingen, erfreuen sich die Herzen der Klassikfans an den sonoren, im dreifachen Forte wuchtigen Klangbildern. Diesen Eigenschaften sind hinsichtlich Dynamik- und Stimmumfang große Konzertflügel im Genre Klavierkonzert ebenbürtig. Oft ist das Publikum nach solchen Konzerten ganz aus dem Häuschen. Doch einmal Hand aufs Herz: Hat es damals im 19. Jahrhundert bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts solche Klangvolumina gegeben? Haben sich etwa Ludwig van Beethoven, Robert Schumann oder Johannes Brahms solche Klänge überhaupt vorstellen können? Wohl kaum. Viele Musikfreunde wissen mittlerweile darum und sind neugierig geworden, wie Orchestermusik seinerzeit geklungen haben könnte. Folglich begeben sie sich in Scharen zum Eröffnungskonzert des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr in die Philharmonie Essen, um ausgewiesenen Spezialisten in Sachen historisch orientierter Aufführungspraxis zu lauschen.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts begann man, sich mit werkgetreuen Darbietungen von Barockmusik zu beschäftigen. Aber erst ab den 1950-er Jahren nahm die Historische Aufführungspraxis richtig Fahrt auf. Berühmte Vertreter waren die Cappella Coloniensis unter der Leitung von Karl Richter und unter Nikolaus Harnoncourt der Contentus Musicus Wien. Ging man bis vor rund 40 Jahren der Musik bis Mitte des 18. Jahrhunderts auf den Grund, ging es weiter mit der Wiener Klassik. Populäre Dirigenten wie Roger Norrington und John Eliot Gardiner erkundeten diese Epoche. Inzwischen widmet man sich auch der Epoche der Romantik und Spätromantik. Denn auch der Unterschied auf den Gebieten Instrumentarium und Spieltechnik zwischen dieser Zeit und der Gegenwart ist wahrlich nicht klein.

Ein international renommiertes Ensemble hinsichtlich alter Spiel- und Aufführungstechniken ist Anima Eterna Brugge, 1987 ins Leben gerufen. Eins seiner Schwerpunkte liegt auf der romantischen Musik. Aus dieser Zeit hat es Werke von Franz Schubert zur Auftaktveranstaltung des Klavierfestivals mitgebracht. Für heutige Verhältnisse ungewöhnlich ist ihre Besetzung mit nur sieben ersten Geigen und damals gängigen Instrumenten wie Naturhörnern, Naturtrompeten oder Flöten. Die Streicher spielen auf Darmsaiten. Ungewöhnlich ist zudem ihre Aufstellung: von links nach rechts 1. Geigen – Bratschen – Celli – 2. Geigen – hinter beiden letzten Gruppen die Kontrabässe. Das Resultat ist ein schlanker, obertonreicher Orchesterklang, trockener, schärfer, akzentuierter, bisweilen auch grober als der moderner Orchester. Jedes Orchestermitglied ist ein Meister alter Spieltechniken. Bis auf vernachlässigbar ganz wenige Stellen sitzt brillant jeder Ton der Holz- und Blechbläser, während die Streichinstrumentalisten mit einem ebenmäßigen, ausgewogenen Spiel überzeugen.

Foto © Dana Schmidt

So kommt Franz Schuberts Ouvertüre zur Schauspielmusik Rosamunde mit einer außerordentlich nuancierten, zarten Tongebung von der Bühne. Selbst kleinste Phrasierungen werden glasklar zum Ausdruck gebracht. Auch seine Sinfonie in h-Moll, bekannt als „Unvollendete“, erklingt entschlackt von gewohnt etablierten Klanggewohnheiten wie das Ineinanderfließen von Tonfarben fein ziseliert ungemein durchhörbar. Ein etwas festerer Zugriff könnte hier aber möglich sein. So bricht an wenigen Stellen der musikalische Spannungsbogen. Auch die ruhelos getriebene Streicherfigur am Anfang der Exposition kann getrost im vorgeschriebenen Pianissimo beginnen. Gefühlt wahrgenommen ist jedoch ein fast unhörbares, vierfaches Piano.

Franz Liszts Bearbeitung für Klavier und Orchester von Schuberts Wanderer-Fantasie und sein zweites Klavierkonzert werden ebenfalls sehr differenziert und durchstrukturiert zu Gehör gebracht. Hinzu gesellt sich hier Joseph Moog. Er sitzt an einem Bechstein-Flügel aus dem Jahr 1870. Der ist ein Vorgänger des heutigen Konzertflügels, bei dem die Saiten parallel verlaufen. Bei den modernen Tasteninstrumenten überkreuzen sie sich. Auch die Tongebung dieses alten Instruments ist schlanker und leiser. Traumwandlerisch sicher geht Moog damit um. Tief ausgelotet, fein phrasiert, hochvirtuos-brillant bei schnellen Tonrepetitionen, Läufen oder Arpeggien ist sein Vortrag, mit dem er klanglich und musikalisch mit dem Orchester eine Symbiose eingeht.

Jederzeit ist auf Jos van Immerseel Verlass. Der Gründer und bis vor zwei Jahren Künstlerische Leiter von Anima Eterna Brugge hat sich als Interpret der historischen Aufführungspraxis einen Namen gemacht. Schnörkellos, präzise, mitatmend und umsichtig lotst er das Orchester und den Solisten durch die Partituren und ist somit mitverantwortlich für ein präzises wie homogenes Zusammenspiel.

Anhand von Franz Liszts Au bord d’une source, dem vierten Stück aus dem ersten Band der Années de pèlerinage, demonstriert Moog noch einmal sein hohes pianistisches und musikalisches Niveau. Als Schubert-Verehrer wird dem scheidenden Intendanten Franz Xaver Ohnesorg die ihm gewidmete zweite Zugabe gefallen. Gemeinsam setzten sich Immerseel und Moog an den Flügel und spielen aus dem Liederzyklus Die schöne Müllerin die Nummer 7 Ungeduld in der Fassung von Franz Liszt und Jacques Drillon für Klavier zu vier Händen.

Das Publikum zeigt sich nach jeder Programmnummer begeistert. Schließlich gibt es langanhaltende, stehende Ovationen nach der zweiten Zugabe.

Eine kleine Randerscheinung zu Beginn der beiden Konzerthälften sorgt für Unmut. Ein kleines Häuflein beginnt draußen eine Stunde vor der Veranstaltung gegen die aktuelle Klimapolitik zu demonstrieren und knöpft sich als aus seiner Sicht großen Übeltäter für die Umweltkrise die RWE – kurz für Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk – vor. Der Konzern ist in diesem Jahr General- und Hauptsponsor des Klavier-Festivals Ruhr. Rund eine Handvoll kann sich ins Auditorium hineinschmuggeln und unterbricht die Eröffnungsrede des Schirmherrn Markus Krebber und den Beginn der Unvollendeten nach der Pause kurz. Doch der Sicherheitsservice ist darauf vorbereitet. Ganze Kerle, stämmig wie Kleiderschränke, drängen ruckzuck die Protestanten hinaus. Ob diese Aktionen ihren Zweck erfüllen, sei dahingestellt. Jedenfalls empfinden viele Zuhörer diese Aktionen als nicht angebracht, einige Orchestermitglieder schmunzeln.

Hartmut Sassenhausen