Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
EXÓTICA/THE VISITORS
(Amanda Piña, Constanza Macras)
Besuch am
1. und 10. September 2023
(Premieren)
Ruhrtriennale, Salzlager Pact Zollverein Essen, Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg
Ein ganzes Bündel aktueller Themen stellt die mexikanische Choreografin Amanda Piña in den Mittelpunkt ihrer neuen Kreation Exótica, die jetzt im Rahmen der Ruhrtriennale im Essener PACT Zollverein als deutsche Erstaufführung präsentiert wurde. Kulturelle Aneignung, Enteignung und Widerstand, aber auch sexuelle Diversität reflektiert sie in einer 90-minütigen Performance, die sie als rituelle Ahnenbeschwörung verstanden wissen will und suggestiv, fantasievoll, aber auch ein wenig wortlastig zelebriert.
Ausgangspunkt sind die Biografien von vier Tänzern aus fremden Kulturen, darunter auch ihre eigene Großmutter, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa große Erfolge feierten, gleichwohl mit rassistischen Vorurteilen zu kämpfen hatten und spätestens in den 30-er Jahren in völlige Vergessenheit gerieten. Um sich in die frühe Zeit einzufühlen, setzt Piña zunächst mit viel Geduld die Besucher in Trance, um deren eigene Ahnen ins Bewusstsein zu rücken. Es folgen dann mehrere Tanzkreationen im Geiste der vergessenen Künstler, ergänzt und unterbrochen von etwas lang geratenen biografischen Erläuterungen. In den Tanzeinlagen zeigt sich die wahre Kompetenz der mexikanischen Choreografin, was Sensibilität, Fantasie und tiefe Inspiration angeht.
Für die aus Mexiko, dem Senegal, Indien und der Türkei stammenden „Ahnen“ entwirft sie vier getanzte Monologe mit Bewegungsmustern, Kostümen und Bühnenszenerien, die gleichermaßen mit den exotischen Kulturen verbundene Klischees bedienen, sie aber gleichzeitig in Frage stellen. Womit sie das Grundproblem berührt, von den „Exoten“ erwartete, festgefügte Vorurteile zu bestätigen, die mit deren Kulturen nur wenig gemein haben. Wenn von dem Senegalesen Françoise Féral Bengal mehr „afrikanische Tänze“ gefordert wurden, stellt sich die Frage: Was ist angesichts der kulturellen Vielfalt des Kontinents ein „afrikanischer Tanz“?
Geschickt mischt Piña mit ihren vier Tänzern klischeebehaftete Chiffren mit Elementen, die die Künstlichkeit der eingefahrenen Wahrnehmungs- und Erwartungsmuster deutlich machen. Alles klingt und wirkt ein wenig indisch, afrikanisch, lateinamerikanisch oder orientalisch, aber nichts entspricht den kulturellen Originalen. Der kolonialbelastete Europäer bestimmt, wie afrikanisch sich ein Senegalese zu verhalten hat.
Eine erhellender, sinnlicher und wohltuend nachdenklicher Beitrag zur aktuellen, bisweilen hysterisch geführten Diskussion um kulturelle Aneignung und Identität. Langanhaltender Beifall ist die Folge.
Ihre Begabung, ähnliche und genauso ernste Themen vital und unsentimental ohne Grübelfalten und Trauerflor auf die Bühne zu bringen, beweist die argentinische Choreografin Constanza Macras auch mit ihrem neuen Beitrag für die Ruhrtriennale in der Gebläsehalle des Landschaftsparks.
The Visitors nennt sie ihr Tanzstück, angelehnt an die Horrorszenarien der Slasher-Filme, in denen junge Leute von geheimnisvollen Eindringlingen bedroht und letztlich getötet werden. Mit ihrem Ensemble DorkyPark und weiteren jungen, teilweise sehr jungen Gästen aus Südafrika entfacht sie ein 100-minütiges, bunt und kraftvoll aus akrobatischen Tanzeinlagen, diversen Songs, lockeren Moderationen und nachdenklichen Ruhepunkten zusammengesetztes Feuerwerk theatralischer Vielfalt. Oft ironisch angehaucht, aber niemals kalauernd, oft bedrückend, aber niemals niederdrückend.
Die überwiegend schwarzhäutige Truppe wird von „Besuchern“ bedroht, die die Probleme nicht nur Südafrikas reflektieren. Etwa die bis heute andauernde kolonialistische Unterdrückung, wenn ganze Landstriche und Industrien an westliche oder fernöstliche Magnaten ohne Rücksicht auf soziale Auswirkungen verschachert werden. Auch Probleme wie Rassismus, Korruption und Bürokratismus finden ihren Niederschlag, was am Ende in eine virtuos durchchoreografierte Gewaltorgie mündet.
Dass die auch von den jüngsten Tänzern perfekt ausgeführten Massenszenen trotz allem eine lebensbejahende und optimistische Dynamik ausstrahlen, mag auf den ersten Blick die Schwere der existenziellen Probleme mildern und das Klischee erhärten, Schwarze seien traditionell an Unterdrückung und Unrecht gewöhnt und entsprechend belastbarer als Weiße.
Aber nur auf den ersten Blick. Macras gelingt es mit ihrem Einfühlungsvermögen, gleichermaßen die nach wie vor prekäre Situation vor allem der schwarzen Bevölkerung mit angemessenem Ernst zum Ausdruck zu bringen als auch deren elementare Kraft und Kreativität.
Ebenfalls langanhaltender Beifall für eine ebenso eindrucksvolle wie lebensfrohe Produktion.
Pedro Obiera