O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Robert Carsens Robespierre

DON CARLO
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
19. März 2022
(Premiere am 12. März 2022)

 

Aalto-Theater, Essen

Orrenda, orrenda pace! La pace è dei sepolcri! Couragiert schleudert Rodrigo, Marquis von Posa, Filippo II., dem König von Spanien, dessen Narrativ von einem Land des Friedens seine Schilderung der Wirklichkeit entgegen. Nicht Frieden herrsche, sondern Schrecken und Friedhofsruhe. Es ist einer der dramatischen Höhepunkte in jeder Inszenierung von Giuseppe Verdis Spätwerk im Übergang von der Grand Opéra zum literarischen Musikdrama nach Schillers revolutionärem Theaterstück. In Robert Carsens Fassung von 2016 für die koproduzierende Opéra national du Rhin Strasbourg, die nun Corona-bedingt mit Verspätung das Aalto-Theater Essen erreicht, ist es die Schlüsselszene schlechthin. Als hätte der Regisseur die Bedrohung Europas durch einen imperialistischen Aggressor vorweggenommen, leuchtet er in der Figur des Marquis symbolisch die Gestalt aus, die Hoffnung und Weltfrieden bringen könnte. Wenigstens anfänglich.

Die Welt von heute bräuchte mithin einen neuen Posa. So weit, so gut. Aber so weit auch realistisch? Dass die Einsicht nur zur Hälfte stimmt und nicht einmal für die ganze Strecke des Vierakters Don Carlo in der für Essen gewählten Mailänder Fassung von 1884 reicht, macht die Doppelbödigkeit einer Inszenierung aus, die irritieren will. Es ist maximal irritierend, dass der Posa, der eben noch den Despoten in die Schranken gewiesen hat, einige Szenen später mit ihm gemeinsame Sache macht. Dass er seinen Freund, den Infanten, hintergeht, dem er Augenblicke zuvor glühende Treue geschworen und sein Leben gewidmet hat. Der Carlo zu allem Überfluss die Komödie seiner Scheinhinrichtung erleben lässt.

Eine Brüskierung Schillers und Verdis? Die Reflexion eines Regisseurs, der womöglich die politische Karriere eines Robespierre vor Augen hat, der sich vom unbestechlichen Vorkämpfer der Wohlfahrt aller zum Propagandisten des Staatsterrors wandelt? Vermutlich ist Carsen schlicht die Vorstellung einer Welt in Frieden und Freiheit abhandengekommen. Aktuell bestärkt durch den Kriegswahnsinn in der Ukraine. Eine Utopie, die von den Posas dieser Welt in seinem Verständnis auf dem Altar des Egoismus geopfert wird.

Die Brechung innerhalb von Carsens Sicht auf Idealismus und Freiheitspathos gewinnt einen spezifischen Reiz, der sich aber nicht ohne weiteres erschließt. Der Regisseur stilisiert seine Sicht auf den Stoff der Verdi-Librettisten Achille de Lauzières und Angelo Zanardini zu einem Stück Welttheaters Herrschaft und Unterdrückung als Menschheitsthema. Er bremst dann aber seine eigene Dynamik aus und folgt einem Geschichtspessimismus in der Tradition etwa eines Oswald Spengler, der die Menschheitsgeschichte nicht als lineare Fortschreibung von Fortschritt in Gesellschaften und Kulturen begreift.

Schon früh wird ersichtlich, dass auch die letzten Insignien der ursprünglichen pompösen französischen Ausstattungsoper inklusive Ballett, die den diversen italienischen Versionen vorausgeht, über Bord geworfen sind. Das Drama um Macht und Ohnmacht im Absolutismus, säkulare und klerikale Autorität, Liebe, Eifersucht und Einsamkeit spielt sich weitgehend in einem schwarzen Bühnenkubus oder – noch existentieller – auf den nackten Bühnenbrettern ab. Dieser Kunstwelt Radu Boruzescus, die einen Widerschein unserer aktuellen Welt zu vermitteln scheint, korrespondieren die nicht minder düsteren Kostüme Petra Reinhardts.

Schwarz die Kutten der Mönche, Hofdamen und Priester. Schwarz die Gewänder der aristokratischen Protagonisten. Tiefschwarz der Sarkophag Kaiser Karls V., der noch durch die Multiplizierung der Särge im Schlussbild getoppt wird, was Elisabettas Abschied vom Infanten mit der grandiosen Arie Tu che la vanità als Bühne dient. Auch die Szenerie rund um die detailliert ausgeschmückte Vorbereitung der Ketzerverbrennung, des Autodafés, mit der penibel inszenierten Ankleidung des Königs entbehrt jeglicher Farbelemente. Lediglich matt silbrig glänzen die Intarsien an der Krone des Filippo. Wie ein Kompromiss wirken dann schon die entweder ausgestreuten oder eingesammelten Schwertlilien – ein Phänomen, das sich aber wegen seiner ständigen Wiederholung totläuft.

In diesem Raum des Nihilismus, dem Carsen im Tandem mit Peter Van Praet nur minimale Lichteffekte schenkt, sind die Handlungen und körpersprachlichen Kommentierungen der Personen umso klarer zu beobachten. Das ist auch notwendig, weil der Regisseur seine Abweichungen vom Libretto ebenso detailgenau inszeniert wie seine wiederholten packenden Anspielungen an den Staatsterror, wie wir ihn aktuell im Machtzentrum Putins erleben. So braucht das Momentum gerade einmal Sekunden, in dem Posa das anfänglich Carlo belastende Freiheitsdossier, das er an seiner Statt angenommen hat, den Schergen des Königs zusteckt. So ist nur in kurzen Phasen zu beobachten, wie Filippo im Bühnenhintergrund in coram publico mit seiner Mätresse „herummacht“. Jener König, der mit Emphase in der Arie Ella gammai m‘ amò die fehlende Liebe Elisabettas beklagt. Ein Regieeinfall, der weder plausibel noch nachvollziehbar ist. Warum sollte der Hofstaat vor einem Potentaten erzittern, der sich unnötig und freiwillig zu einer „kleinen Nummer“ und damit angreifbar macht?

Das Register der Verhaltenseffekte des Regisseurs ist enorm, lässt sich aber kaum als gelungene Personenregie beschreiben. Es changiert von Szene zu Szene. Als Carlo wähnt, die Geliebte in der Anonymität des Schlossgartens, hier: in der Leere eines nüchternen Raumes, zu treffen, dann aber auf die Prinzessin von Eboli trifft, reagiert er allenfalls mit einer beifälligen Geste. Ein Erschrecken, das dramaturgisch geboten wäre, ist das nicht. Gelungen hingegen die Szene mit den sechs flandrischen Deputierten, die mit bloßen Füßen und auf Knien um Frieden für ihre Heimat bittend in Richtung des Königs rutschen und einen Kreis um ihn bilden.

Packend der Moment, in dem vor dem Autodafé die Wachen Schriften der Inhaftierten, mutmaßlich Aufrufe zum Widerstand und Freiheitsverheißungen, auf einen Haufen werfen und diesen anzünden. Eine Bücher-Verbrennung, die an die Auslöschung von freien Medien und Plattformen aktuell in Russland erinnert. Völlig aus jedem rationalen Schema fallend jedoch das Finale. Während in der französischen Urfassung der Mönch in den Gewändern und mit der Krone Karls V. Carlo hinter die Mauern des Klosters St. Juste zieht und damit Flanderns potenziellen Befreier rettet, lässt Carsen den Mönch, wiederum wohl Karl. V. Carlo und Filippo erschießen, den Befreier von morgen und den Tyrannen von heute.

Musikalisch verlangt eine Don-Carlo-Aufführung, die lange im Gedächtnis bleibt, eine Besetzung im Graben wie auf der Bühne in Bestform. Die Essener Aufführung sichert einen solchen Eindruck in hohem Maße. Weitgehend ist das den Essener Philharmonikern mit Andrea Sanguineti am Pult zu verdanken. Vor allem den glänzend disponierten Blechbläsern und den sonoren Kontrabässen, die den Auftritt Karl-Heinz Lehners als Großinquisitor und seinen Disput mit Ante Jerkunica als König von Spanien zum Erlebnis machen. Eine Sternstunde der Bässe, wenn man so will. Zumal sich mit Baurzhan Anderzhanov als Mönch noch ein weiterer mit viriler Kraft hinzugesellt.

In der Titelpartie bleibt Gaston Rivero hinter dem Dreieck der dunklen Stimmen zurück. Dem Tenor ist zwar eine strahlende ausdrucksstarke Höhe zu eigen. Doch fehlt es in der Mittellage an Prägnanz und Melos. Sein Verzicht auf ein Verdi-typisches Legato verstärkt leider noch das Manko. Als Posa zeigt sich Jordan Shanahan in blendender Verfassung. Wie er Rivero im Freiheitsduett Dio, che nell`allma infondere mitreißt, ist mehr als die Bestätigung eines Bravourstücks in Verdis emphatischer Tonsprache.

Beide zentralen Frauenstimmen steigern sich im Verlauf des vokalen Geschehens. Gabrielle Mouhlen gewinnt als Elisabetta spätestens mit ihrer finalen Arie das Herz des Publikums. Das gelingt nach verhaltenem Beginn auch Nora Sourouzian als Eboli. Eben noch buchstäblich am Boden, von der Schmach ihres Geständnisses gegenüber Elisabetta gezeichnet, steigert sich die Mezzosopranistin mit der Ausbruchsarie O don fatale, o don crudel zum Ebenbild der leidenden wie kämpferischen Frau. Als Tebaldo ist Lada Bočková, die für die erkrankte Premierenbesetzung aufgeboten ist, mehr als eine willkommene Einspringerin. Sie singt die Partie auch gerade in der Bonner Don-Carlo-Produktion. Christopher Hochstuhl gibt dem Grafen von Lerma Format. Der von Jens Bingert einstudierte Chor unterstreicht in der geteilten wie der vollen Formation seine Klasse. Dabei verblasst am Ende die eine oder andere peinliche wie überflüssige Choreografie, die Marco Berriel ersonnen hat.

Im lebhaften Schlussbeifall des zu etwa 60 Prozent ausgelasteten Hauses ist die Anerkennung für die musikalische Performance deutlich herauszuhören. Das Publikum, zur Einstimmung in den Abend mit dem Gefangenchor Va, pensiero, sull’ali dorate aus Verdis Nabucco empfangen, eilt aus der Düsternis des Verdi-Ambientes in die Nacht. Doch auch die ist dunkel, als kommentiere selbst die Natur einen politisch geprägten Aalto-Opernabend.

Ralf Siepmann