O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Jung

Aktuelle Aufführungen

Hunde fressen ihre eigene Kotze

DOGVILLE
(Gordon Kampe)

Besuch am
11. März 2023
(Uraufführung)

 

Aalto-Theater, Essen

Er habe die Grenzen des Kinos neu definiert, ist im Lexikon des internationalen Films zu lesen. Lars von Trier gilt zweifelsohne als zumindest einer der wichtigsten Filmregisseure unserer Zeit. 2002 drehte er Dogville, einen Film, der im darauffolgenden Jahr in die Kinos kam. „Lars von Trier setzt in Dogville seinen Weg der Reduktion der filmischen Mittel unbeirrbar fort. Vielleicht treibt er damit eine Menge Leute aus dem Kino. Aber diejenigen, die bleiben, können ein kleines Wunder erleben: Ein Kino, das an den Grenzen der Bilder beginnt“, schrieb EPD Film dazu. Der Film setzte neue Maßstäbe in der Bildästhetik, ist mit Schauspieler-Berühmtheiten besetzt, allen voran Nicole Kidman, und besticht mit einer Handlung, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen kann. Gedacht als Beginn einer USA-Trilogie, folgte 2005 Manderlay, der dritte Teil steht noch aus.

Eine Frau taucht in einem abgelegenen Dorf in den Rocky Mountains auf. Sie ist anscheinend auf der Flucht vor einer Gangster-Bande und wird von dem jungen Hobby-Schriftsteller Tom Edison versteckt. Unverrichteter Dinge müssen die Gangster wieder abziehen, versprechen Tom aber eine stattliche Belohnung, wenn er sie beim Auftauchen von Grace anruft. Die Dorfgemeinschaft gewährt der jungen Dame Asyl. Sie solle sich mit Gelegenheitsarbeiten ihren Aufenthalt verdienen. Zwischenzeitlich gibt es den Dialog, der den Namen des Dorfes erklärt. Man müsse Hunde erziehen, damit sie nicht ihrem Instinkt folgen und die eigene Kotze fressen. Das ist böse, aber gut. Als die Polizei in Dogville auftaucht und Fahndungsplakate von Grace aufhängt, kippt die Stimmung. Die Dorfbewohner wollen die junge Frau loswerden, nicht ohne sie zuvor auszubeuten und zu vergewaltigen. Ein Fluchtversuch misslingt, sie wird daraufhin in Ketten gelegt. Trotzdem weist sie die Avancen Toms zurück, der daraufhin die Telefonnummer der Gangster wählt. Ein Fehler, der den Untergang des Dorfes mitsamt seiner Bewohner zur Folge hat.

Als der frühere Essener Intendant Hein Mulders, der inzwischen die künstlerischen Geschicke der Oper Köln leitet, den Stoff Gordon Kampe anbot, um eine Oper dazu zu komponieren, war dieser ihm nach eigener Aussage „mit Haut und Haaren verfallen“. Schön, wenn ein Komponist über ein so gesundes Selbstbewusstsein verfügt, sich an ein solches Meisterwerk heranzuwagen. Unterstützt wird Kampe dabei von Regisseur David Hermann, Bühnenbildner Jo Schramm und Kostümbildnerin Tabea Braun.

Sieht man die „Reduktion der filmischen Mittel“ bei Lars von Trier als ein Fenster zu einer neuen Ästhetik, spürt man bei Schramm davon nichts. Der hat auf seiner Bühne erst mal nichts, später eine Rampe, die mit schlecht verarbeiteten Sperrholzplatten in einzelne Abteile aufgegliedert ist. Da gibt es kein reduce to the max, da bleibt die Fantasie des Theaters außen vor. Ähnlich verhält es sich mit den Kostümen. Man braucht den Film nicht gesehen zu haben, um zu erkennen, dass die Qualität der Bekleidung am untersten Niveau ausgerichtet ist. Und das hat nichts damit zu tun, dass es sich hier um die armen Bewohner eines Dorfes handelt. Lavinia Dames in einen Faltenkeller-Rock mit weißem Pulli zu kleiden, das macht jemand, der beim Textil-Discounter einkauft und keine eigene Schneiderei zur Verfügung hat. Auch Hermann kocht auf kleiner Flamme, aus musikalischer Sicht bleibt ihm auch kaum eine andere Wahl. Eine Vergewaltigung auf der Bühne zu zeigen, bei der der Rock unten bleibt, erreicht dann doch die Dimension des Nicht-mehr-sehen-Wollens. Ansonsten arbeitet er auf den großen Schlusseffekt hin. Der gelingt ihm als Theaterzauber, wie man ihn im Stadttheater erwartet. Allmählich fragt man sich, ob in Opernhäusern eigentlich das Publikum noch ernstgenommen wird, das an diesem Abend immerhin wieder die Reihen füllt.

Wie aber geht Komponist Kampe mit dem Stoff um, der ihn so sehr begeistert? Um es abzukürzen: Die Oper ist tot. Ganze Regale sind gefüllt mit Gassenhauern und unvergesslichen Arien vergangener Opern, Singspiele und Operetten. Dem ist nichts Neues hinzuzufügen. Programmmusik, die sich bei Dogville aufdrängt, verweigert Kampe. Arien sowieso. Anklänge an Filmmusik verbieten sich. Obwohl ihm das dann glücklicherweise doch nicht ganz gelingt. So entsteht eine Musik mit einigen interessanten Effekten, die keinen schmerzt, aber auch keinen über den Tag hinaus beglückt. Anforderungen an die Sänger werden nicht gestellt. Wenn permanent Vierfachwiederholungen einzelner Sätze produziert werden, um sie in Nuancen zu wiederholen, überfordert das niemanden.

Schon gar nicht das Ensemble, das an diesem Abend antritt. Auf diesem Niveau ist jeder König. Lavinia Dames ist eine bezaubernde Grace, die wie alle stimmlich ohne große Anstrengung über den Abend kommt. So geht es auch Tobias Greenhalgh, der als Tom Edison jr. Akzeptanz und Toleranz in der Dorfgemeinschaft fordert. Obwohl umfangreich besetzt, gibt es ansonsten kaum jemanden, der sich besonders profilieren kann. Selbst eine Maartje Rammeloo als Liz Henson sticht kaum hervor.

In 110 Minuten lässt Tomáš Netopil keine Sekunde locker, die Essener Philharmoniker zu Höchstleistungen anzutreiben, die sie bereitwillig absolvieren. Und so entsteht in dieser Zeit eine interessante, etwas gleichförmige musikalische Erzählung mit Knalleffekt.

Das Publikum goutiert das und erhebt sich im dritten Anlauf, um allen Beteiligten für diesen Abend zu danken.

Michael S. Zerban