O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Große Momente in kleiner Umgebung

CROSSMIND/LABORBEGEGNUNGEN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
17. Februar 2022
(Uraufführung)

 

AmVieh-Theater, Essen

Eva Zitta und Dominik Hertrich sind Schauspieler und Regisseure. Seit vielen Jahren arbeiten sie selbstständig. Im Oktober 2020 fanden sie ein kleines Ladenlokal, von dem sie sich vorstellen konnten, dass es die Basis für ihre Arbeit werden könnte. Der Vermieter zeigte sich kooperativ, und so konnten alsbald die umfangreichen Ausbauarbeiten am Viehofer Platz beginnen. Am 17.7.2021 wurde das AmVieh-Theater eröffnet. Um Arbeiten zu zeigen, die „einen Anspruch an sich selbst haben“, wie Hertrich formuliert. Das Theater bietet Wohlfühl-Ambiente. Die Bestuhlung im Publikumsraum erinnert daran, dass die Möbel zusammengerückt werden, um im Wohnzimmer Platz zu schaffen für eine Bühne, die ohne große Finessen auskommt. Im Nebenraum ist Platz für die Bar, die Garderobe, die Technik und was es sonst noch so braucht. Getränke und Snacks werden auf Wunsch am Platz serviert. Die Umgangsformen sind denkbar unkompliziert. „Kann ich mein Fahrrad hier draußen stehenlassen?“ ist bis heute am Viehofer Platz eine berechtigte Frage. Seit Jahrzehnten kämpft die Stadt darum, die Lebensqualität zu verbessern, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Das Fahrrad findet seinen Platz im Zuschauerraum. So einfach geht’s.

2013 zog Daniela Petry mit ihrem Kontrabass nach Essen und gründete hier die Gruppe Moment, ein Kollektiv, das neue Musik mit Tanz verbindet. Wenn es nicht gerade was anderes macht. Festlegen will Petry sich da nicht gern. Es darf auch mal Musiktheater sein oder auf der Straße stattfinden. Feste Mitglieder der Gruppe sind neben Petry Sebastian R. Wendt mit seinen Klarinetten und Norman Jankowski, der für die Percussions zuständig ist. Kürzlich gab es einen Workshop, den die Gruppe Crossmind nannte. Da hat sie andere Künstler verschiedener Genres eingeladen, gemeinsam etwas zu erarbeiten.

Norman Jankowski und Camila Scholtbach – Foto © O-Ton

Am heutigen Doppelabend stellt die Gruppe das Ergebnis des Workshops vor, ehe sie ein neues Projekt aus ihrer Reihe Laborbegegnungen darbietet. Die Gruppe Moment, zu der an diesem Abend auch die Tänzerin Camila Scholtbach gehört, versammelt sich mit ihren Gästen auf der kleinen Bühne. Wendt übernimmt das Dirigat. Nach einer musikalischen Improvisation, aus der Beatriz Ruiz an der Trommel und Marianne Daum im Gesang hervorstechen, bringen sich Marie Müller und Susanne Kups tänzerisch ins Spiel, das Kiyomi Frankenberg am Cello mit barocken Verzierungen schmückt. Den Abschluss der Aufführung bildet ein Gedicht, das zu musikalischen Klängen vorgetragen wird. Die Teilnehmer des Workshops können uneingeschränkt stolz auf sich sein, findet das Publikum. Und die Gäste der Gruppe Moment freuen sich über den gelungenen Auftritt. Alle bleiben da, um das zweite Stück des Abends mitzuerleben.

Es ist das elfte Projekt in der Reihe Laborbegegnungen. Die sind für die Gruppe das Experimentierfeld. „Weit über Ideen aus unserem langjährigen Schaffen mit Klang und Tanz hinaus wird mit Inspirationen aus Naturwissenschaft, Geschichte, Mythologie und Philosophie ‚gebrodelt‘“, beschreibt Petry die Reihe. Und beim elften Mal ist es vielleicht einfacher für das Publikum, sich gar nicht groß mit Hintergründen zu beschäftigen, sondern einfach das Bühnenerlebnis zu genießen, das aus den theoretischen Überlegungen der Gruppe entstanden ist. Man verpasst dabei nichts, überfrachtet aber auch das Gehirn nicht mit sehr speziellen Überlegungen. Petry hat sich im Vorfeld mit Fraktalen beschäftigt. Der Mathematiker Benoît B. Mandelbrot erfand 1975 eine neue Sichtweise auf Geometrie, die er Fraktale nannte. Er leitete, vereinfacht ausgedrückt, die Geometrie aus der Natur ab. Von der Wissenschaft zunächst belächelt, entwickelte Mandelbrot so Computer und ebnete den Weg für moderne computeranimierte Grafik. Aus der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte entstand das neue Programm.

Daniela Petry und Sebastian R. Wendt – Foto © O-Ton

Auf der Bühne werden zwei „Plastikwolken“ aufgebauscht, die einen Naturbezug herstellen sollen. Für das Stück werden gleich zwei Kontrabasse benötigt, allerdings anders als erwartet. Wendt stellt Klarinette und Bassklarinette zur Verfügung. Jankowski wird eine neue Form der Perkussion zeigen. Und Scholtbach visualisiert mit ihren Tänzen. Drei Stücke werden für das Programm ausgewählt. Alisei von Stefano Scodanibbio aus dem Jahr 1986, New morse code/stuttered chant von David Lang, das gerade mal elf Jahre alt ist und schließlich aus 1983 John Cages Ryoanji, alle drei in Arrangements von Petry. Die Kontrabassistin links und der Klarinettist rechts bilden den musikalischen Rahmen für Scholtbach, die ihren Tanz aus dem Sitz heraus beginnt, langsam entwickelt, dabei unterschiedlichste Stilformen zeigt und dabei immer häufiger in Dialog mit Jankowski tritt. Der hat genau zwei Perkussionsinstrumente zur Verfügung, wenn er nicht gerade auf den Tanz von Scholtbach eingeht. Seine Füße donnern auf den Bühnenboden, lediglich gedämpft von seinen Strümpfen. Der zweite Bass, der seitlich auf der Bühne liegt, bietet dem Rhythmus der Hände genug Resonanzraum.

Verantwortlichen in den Kulturinstitutionen, die ständig deklamieren, über neue Konzertformate nachdenken zu müssen, sei ein Besuch dieser Veranstaltung dringend angeraten, die zwar hier in denkbar kleinem Rahmen stattfindet, aber jederzeit auf größere Bühnen übertragbar ist. Hier werden keine Werke von Komponisten zelebriert. Stattdessen macht sich die Free-Jazz-Erfahrung der Beteiligten bemerkbar, die vollkommen gelassen ihre Musik spielen, als wollten sie den Gästen sagen: Hört mal, ist ganz einfach. Ist es natürlich nicht. Scholtbach findet ihre eigene Definition der locker vorgetragenen Klänge. Hier fügt sich tatsächlich beides zum Gesamtkunstwerk zusammen, das die Besucher berührt.

Am Ende des Abends – wie lange hat er gedauert? Anderthalb Stunden? Keine Ahnung, es ist wahrscheinlich das Unwichtigste der Welt – wirken alle Beteiligten seltsam beglückt. Irgendwie hat jeder noch mit jemandem was zu bequatschen, und so klingt der Abend sehr langsam, aber vollkommen entspannt aus. Wer die so genannte neue Musik so erlebt, wird mit dem Wort Berührungsangst nichts mehr anfangen können.

Michael S. Zerban