O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Mit Engelszungen reden

AM TAG DANACH
(Dominik Hertrich)

Besuch am
14. Oktober 2023
(Uraufführung)

 

Rabbit-Hole-Theater, Essen

Hey, was hast du genommen, als du den Text geschrieben hast? Das möchte ich auch!“ möchte man dem Bühnenautor Dominik Hertrich nach einer guten Stunde zurufen. Oder auch einfach gar nichts sagen, sondern das eben Gehörte noch ein wenig auf sich wirken lassen. Um aufwühlendes Gegenwartstheater zu erleben, muss man heute lange suchen. Und es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass die Chancen bei den großen Bühnen eher schlecht stehen. Die sind damit beschäftigt, Richard III von Shakespeare oder den Menschenfeind von Molière auf ihre aktuellen Bezüge zu befragen. Was ja durchaus eine gewisse, in jedem Fall museale Berechtigung hat. Selbst in den – noch – subventionsgesättigten großen Produktionshäusern der so genannten Freien Szene findet man immer seltener Stücke und Darstellungsformen, die sich mit den Themen befassen, die für das Publikum relevant erscheinen. Zwischen „Kulturfrühstück“ und Stadtspaziergang scheint da kaum noch Zeit für bewegende Stücke. Stattdessen mutieren die Darsteller zu Aktivisten oder sollte man eher von Wokisten reden, die einem nach dem Fernsehgenuss nun auch noch den Theatergang verleiden.

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Im Rabbit-Hole-Theater am Viehoferplatz in Essen kümmert man sich eher um die Dinge, die die Menschen außerhalb der eigenen Blase bewegen. Da findet heute Abend die Uraufführung von Am Tag danach statt, wobei der Titel vielerlei Deutungen zulässt. Hertrich lässt zwei gefallene Engel das Publikum zu einer Zirkusaufführung einladen, die sie selbst moderieren. Geradezu rauschhaft spiegeln sie krisenhafte Entwicklungen des Menschseins, ohne den Zeigefinger auch nur einen Moment erheben. Stattdessen stellen sie auf vielen Ebenen Fragen, während sie sich darum bemühen, das Publikum mit kleinen Kunststücken zu begeistern. Dass das Theater im ehemaligen Ladenlokal dazu seine Räume ständig neu erfindet, gehört zur Erlebniswelt, die Hertrich, Christian Freund und Jens Dornheim als Betreiber entwickeln. An diesem Abend sind die Stühle für die Besucher rund um die „Manege“ aufgestellt, die den Großteil des Raums in Anspruch nimmt. Mit Klebeband sind die Räume eingeteilt, in denen sich die Engel bewegen. Ein Mikrofon hängt von der Decke, später wird ein Stuhl in die Manege geholt, und das ist es auch schon. Oder fast. Vor der Fensterfront hat Hertrich das Technik-Pult aufgebaut, von dem aus er ein wahres Feuerwerk an Licht- und Geräuscheffekten startet. Die Kostüme der beiden Darstellerinnen hat Gesa Gröning gestaltet. Geschmack- und fantasievoll, nicht ohne auf viel – tätowierte – Haut zu verzichten. In der Personenführung hat sich Hertrich zurückgehalten und die Darstellerinnen machen lassen. Das gerät zu einem Glücksfall, denn die zwei Schauspielerinnen dürfen sich so richtig ausleben – weil sie es können.

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Nachdem Rosalie Linneweber das Publikum in das Theater gebeten hat, zieht Yasmin Münter es schnell in seinen Bann. Kleine, meist gewollt missglückte Kunststücke begleiten ihren Vortrag, ehe die beiden in einen rauschhaften Dialog treten. Kernige Sprache auf der Zirkus-, der Beziehungs- und der Tagebuchebene wird in hoher Geschwindigkeit mitreißend vorgetragen. „Ich liebe die Freiheit. Mein Leib für dich gegeben. Die bekannteste Spendenformel der Welt“, schleudert Münter in den Raum. Aber keine Zeit, groß darüber nachzudenken, weil der nächste Themenwechsel schon wartet. Eingestreute Musik von Rodriguez Junior, Cage the Elephant oder Carl Orff wird weniger zugunsten höherer und besser verständlicher Wortanteile. Und die beiden Damen kennen ihren Text. Deutlich intoniert inmitten rasanter, atembezwingender Bewegungsabläufe, die keine Angst vor der Nähe zum Publikum kennen, die auch mal in einem eigens und selbst choreografierten Tanz enden. Gebannt verfolgt das Publikum, wie die beiden Weltbilder auf den Kopf stellen, „das System“ hinterfragen, um schließlich beim Schmerz zu landen. Denn „Schmerz ist die fundamentale Realität“, lässt Hertrich Linneweber sagen.

„Alles wird abstrakter, absurder, bis es bricht“, verkündet sie an anderer Stelle. Damit der Abend nicht in einem einzigen großen Weltschmerz endet, hat der Dramatiker sich ein wunderbares Ende einfallen lassen, bei dem das Publikum sich unversehens vor der Türe wiederfindet. Noch halb in Trance, in die der Abend die Besucher befördert hat, mag der Applaus kein Ende nehmen. Die herausragenden Leistungen von Münter und Linneweber werden ebenso gefeiert wie das Szenario und das Stück, das sich so rasant über die Gäste ergießt, dass allenfalls Bruchstücke im Gedächtnis haften bleiben. Die aber wühlen weiter.

Es ist kaum zu glauben, dass Am Tag danach – vorerst – nur zwei Mal aufgeführt wird. Denn es sind solche Abende, die beweisen, dass Theater – abseits von Ideologie und musealem Siechtum – lebt.

Michael S. Zerban