O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

Aktuelle Aufführungen

Märchen trifft Zirkuszelt

ZWISCHENWELTEN
(Demis Volpi, Gil Harush)

Besuch am
7. September 2022
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Theater Duisburg

Es ist schon ein wenig seltsam, was Ballettdirektor Demis Volpi zur Spielzeiteröffnung des Balletts der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg im Theater Duisburg unter dem Titel Zwischenwelten präsentiert. Ein Märchen, das an Silvester spielt und das vor vier Jahren als Stück des Bundesjugendballetts uraufgeführt wurde. Dazu gibt es eine Koproduktion mit dem Beethovenfest Bonn. Koproduktionen sind zum Beispiel bei schmalen Budgets oder Ideenarmut eines der Beteiligten gut, der Profilschärfung dienen sie kaum.

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Die Premiere ist vergleichsweise dürftig besucht, wie in diesen Tagen üblich. Da rauscht das Gebläse, um die warme Luft aus dem Zuschauerraum zu bekommen, Fächer schwirren vor den Gesichtern und auf der Stirn steht der Schweiß. Das erinnert stark an die Kuchentafel auf der Sommerterrasse, bei der im Fernsehen eine Wiederholung von Der kleine Lord läuft. Währenddessen zeigt Volpi auf der Bühne das Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern. Hans Christian Andersen verfasste sein Kunstmärchen 1845. Besagtes Mädchen versucht vergebens, am Silvesterabend Streichhölzer zu verkaufen. Es ist bitterkalt. Und während das Mädchen schließlich die Schwefelhölzer selbst entzündet und dabei Wunderliches erlebt, gleitet es erfrierend sanft in den Tod. Nicht der Tanz ist der Coup, davon gibt es vergleichsweise wenig, was zudem hinter der Musik herhinkt, sondern die Musik steht im Vordergrund. Andernorts nennt man das ein Konzert mit szenischer Umsetzung, jedenfalls nicht Ballettaufführung. Gespielt wird David Langs The Little Match Girl Passion. Es singen Sopranistin Viola Blache, Altistin Helene Erben, Tenor Mirko Ludwig und Bass Sönke Tams Freier auf Englisch. Dankenswerterweise gibt es deutschsprachige Übertitel. Ein Hörgenuss, für den Flurin Borg Madsen eine Bühne gefunden hat, die die Mauern zweier Stadthäuser symbolisieren kann, wie es im Märchen beschrieben ist. Bei den Kostümen hat sich Sonja Kraft wenig einfallen lassen. Rose Nougué-Cazenave, die das Mädchen spielt, wirkt in ihrem Kleid, das vom Stoff her an Jute erinnert, eher elegant, wenn sie stocksteif und zitternd auf der Bühne liegt. Volker Weinhart, erfahrener Lichtbildner an der Rheinoper, operiert mit vielen Spots auf der Bühne. Ärgerlich wird es, wenn er das Publikum ordentlich und unbotmäßig lange blendet. Hier kann er in den Folgevorstellungen sicher noch nacharbeiten, zumal es dem Stück nicht in geringster Weise hilft. Insgesamt aber doch ein schönes Konzert, optisch ansehnlich in Szene gesetzt.

Diversität bedeutet gerade nicht, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zu betonen, welche unterschiedlichen Menschentypen man in seinem Betrieb beschäftigt oder beauftragt. Gemeint ist damit, dass Menschen ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Religion, Geschlecht und so weiter miteinander arbeiten, ohne daraus ein Bohei zu veranstalten. Wenn die Rheinoper in ihrem Programmheft betonen muss, dass die Komponistin der Musik „transgender“ war, also von einem Geschlecht zum anderen wechselte, was im Übrigen nicht belegt ist, hat sie das nicht verstanden. Ist in unseren Tagen nicht so einfach, wenn man zwanghaft politisch korrekt sein will. Sophie Xeon wurde als Mann in Glasgow geboren und wird nach ihrem ersten und einzigen Album als eine der wichtigsten Musikproduzenten Schottlands gefeiert.

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„Schau nicht auf das Einmachglas, sondern auf das, was drin ist“ ist ein hebräisches Sprichwort, das den Choreografen Gil Harush zu seinem Stück Don’t Look at the Jar inspirierte. Für dieses Werk erteilte das Beethovenfest Bonn dem Bratschisten Ian Anderson den Auftrag, aus dem Album von Xeon ein Arrangement für ein Streichquintett zu schaffen. Die Geigerinnen Aoife Ní Bhriain und Hulda Jónsdóttir, Anderson selbst, Stefan Hadjiev und Bassist Nikolai Matthews liefern eine großartige Version dieser Musik ab, die nahezu durchgängig fesselt. Harush betont, dass die Musik nicht einfach „vertanzt“ werde, sondern eine eigenständige Komponente darstelle. Ein perkussives Element sorgt dann doch dafür, dass es eine Verbindung gibt. Er sagt auch, in seiner Choreografie ginge es um „Identitäten“. Das ist ungefähr so aussagekräftig, als spräche er über Karamellbonbons. Wer möchte, kann aus den Kostümen, die er selbst gestaltet hat, erkennen, dass die Männer weibliche Kleidungsstücke tragen. Was im Theater nun keine Besonderheit darstellt. Und so überzeugt Harush weitaus mehr mit seiner Bewegungssprache. Hier gibt es Überraschendes zu entdecken. Zwar gibt es hie und da Probleme mit der Synchronität, aber das kann nicht über immer wieder erstaunliche Gruppenauflösungen oder -bilder hinwegtäuschen. Ein Spektakel, das die Zuschauer über eine Dreiviertelstunde in Atem hält und unter einer Lichteranordnung auf der Bühne stattfindet, die an ein Zirkuszelt erinnert. Weinhart sorgt zudem für interessante Licht- und verzichtet auf Blendeffekte. Immerhin sind die Bilder aufregend genug, dass die Zuschauer gern und viel fotografieren. Zugegeben, das stört, weil die hellen Miniaturbildschirme immer wieder aufleuchten. Aber wer sich selbst nicht mehr an geltende Regeln hält, ein Blick ins Programmheft genügt, darf dann auch vom Publikum nicht erwarten, dass es besondere Rücksichten nimmt.

Für den Schlussapplaus erhebt sich niemand von den Sitzen. Trotz aller Irritationen: Ein Besuch einer Folgevorstellung lohnt.

Michael S. Zerban