O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Lieber ins Kolumbarium

WINTER-ADE-KONZERT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
12. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Freies Kolumbarium Rheinkirche, Duisburg

Früher gab es nichts zu diskutieren. Wenn die Oma verstarb, kam sie in einem Sarg auf den städtischen Friedhof. Wer die „richtigen Leute“ kannte, sorgte für eine gute Lage. Für die Grabpflege war die Hausfrau zuständig. Alles Geschichte. Nur noch 30 bis 40 Prozent der Bürger erwägen eine herkömmliche Bestattung. War es bis in die 1980-er Jahre verpönt, ja, wurde als gotteslästerlich empfunden, „sich verbrennen zu lassen“, gehört die Einäscherung heute zum guten Ton. Wie man hört, sind die Krematorien längst an die Grenzen ihrer Kapazitäten gelangt. Findige Bestatter haben inzwischen eine Vielzahl an Alternativen für die Erdbestattung entwickelt, zumal mit teuren Särgen kaum noch Geld zu verdienen ist. Neben dem Urnengrab auf dem städtischen Friedhof, das kaum noch einer will, werden inzwischen naturnahe Lösungen angeboten. Die Seebestattung galt lange als exklusiv, heute ist sie eine preiswerte Alternative. Waldfriedhöfe sind der dernier cri. Ja, auch die Diamantbestattung ist kein Gerücht. Dabei wird ein Teil der Asche zu einem Diamanten gepresst. Ein ganz neuer Trend ist so alt wie die römische Geschichte.

Kolumbarium heißt auf Deutsch Taubenschlag. So wurden die altrömischen Grabkammern wegen ihrer optischen Ähnlichkeit genannt, in denen die Gräber in langen Reihen unterirdisch übereinander angeordnet waren. In Italien kennen wir keinen Friedhof, auf dem es keine „Urnenwände“ gibt. In Deutschland ist das eine relativ neue Geschäftsidee. Vereinfacht dargestellt kauft man eine alte, außer Betrieb genommene Kirche – oder ein ähnliches Gebäude – saniert sie und bestückt sie mit Stellagen, in denen die Urnen eingestellt werden. Die Vorteile liegen auf der Hand. Immer längere und damit beschwerlichere Wege auf dem städtischen Friedhof bei Wind und Wetter entfallen, eine Grabpflege gibt es nicht, stattdessen können die Angehörigen die „Grabstätte“ trockenen Fußes erreichen, bei ihnen verweilen und Grabschändungen sind so gut wie ausgeschlossen. Die angenehme Atmosphäre und würdige Umgebung sorgen dafür, dass man hier sogar noch schneller zu dieser friedlichen Ruhe findet, die man auf Friedhöfen empfinden kann. Und weil es genügend Platz gibt, ist auch noch Raum für angemessene kulturelle Veranstaltungen.

James Williams und Philippa Thomas – Foto © O-Ton

Seit etwa einem Jahr gibt es das Freie Kolumbarium Rheinkirche in Duisburg-Homberg. Ursprünglich hatte der Stadtteil keine eigene Pfarrkirche. Als 1572 das Homberger Nonnenkloster verlegt wurde, wurde die frühere Klosterkapelle für evangelische Gottesdienste genutzt. 1895 wurde die Kapelle nach Plänen des kölnischen Baumeisters Albes durch die heute noch existierende Rheinkirche ersetzt. Am 20. November 2016 wurde dort die letzte Messe gefeiert, danach schlossen sich die Türen. Mit bis zu neun Metern hohen Stellagen und zusätzlichen Räumen für anonyme Bestattungen eröffnete das Haus als Ruhestätte wieder. Rund 6.000 Urnen sollen dort Platz finden. Was früher Grabstein hieß, nennt man hier Kammer-Front. Noch ist die Zahl der Kammer-Fronten überschaubar. Aber von der ersten Urne an ist die Stimmung in der sanierten Architektur überzeugend. Ein eigens entwickeltes Beleuchtungskonzept sorgt für das Wohlbefinden der Besucher, die hier nicht verzweifelt harte Holzbänke suchen müssen, sondern auf Rondellen oder in Sitzecken zur Ruhe und Zwiesprache kommen können.

Stefan Schuster ist Geschäftsführer des Kolumbariums. Er hat den Bassbariton Thomas Huy beauftragt, eine Konzertreihe zu kuratieren, die geeignet ist, das Haus in angemessenem Rahmen zu bespielen. Und Huy beweist das nötige Feingefühl. Zu Karfreitag wird es eine „Übung der Stille“ geben, bei der sich Menschen zu meditativen Übungen bei entsprechenden Klängen versammeln können. Für die Zukunft ist eine sechsteilige Orgelkonzert-Reihe geplant, für die er die Organistin Ekaterina Porizko mit Gästen gewinnen konnte. Für heute hat er das Duo Volke eingeladen. Volke, so hieß der Urgroßvater von James Williams, der in Essen lebte, ehe er nach London auswanderte und seinen Namen änderte. Es wird nicht die einzige Reminiszenz des Nachmittags bleiben. In seiner Heimatstadt London hat der junge Williams Klavier und Gesang studiert. Inzwischen lebt er mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Philippa Thomas, in Deutschland. Die Besucher von O-Ton kennen die beiden als hochgeschätzte Gäste der Düsseldorf Lyric Opera, wo sie bereits mehrfach mit Duetten, Arien der Oper und Operettenschlagern begeisterten. Heute allerdings überraschen sie mit einem ungewöhnlichen Programm. Und wenn es an diesem Sonntag einen Fehler gibt, dann ist es der Titel des Konzerts. Von Winter, ade! kann keine Rede sein. Es wird – fast – der einzige bleiben.

Philippa Thomas und James Williams – Foto © O-Ton

Im früheren Altarraum sind die Stuhlreihen auf einem kleinen Podest aufgebaut, die bis auf den letzten Platz besetzt sind, ebenso wie die übrigen Plätze im Kolumbarium. Unmittelbar vor dem Podest haben die beiden Musiker ihre Instrumente aufgebaut. Thomas nimmt zunächst am E-Piano Platz, um Williams bei seinem Vortrag von Vaga luna, che inargenti, zu Deutsch etwa wandernder Mond, getaucht in Silber, einer Arietta von Vincenzo Bellini zu begleiten. Danach werden die Plätze getauscht, damit Williams Thomas bei ihrem Ständchen von Johannes Brahms untermalen kann. Williams behält den Platz am Klavier, während die beiden Er und Sie sowie Ich bin dein Baum von Franz Schubert im Duett intonieren. Danach entschwindet Thomas, obwohl es doch so schon weitergehen könnte. Nach einem kleinen Klavier-Zwischenspiel von Williams tritt Huy noch einmal auf, um zu verkünden, dass er vergessen habe, Thomas als indisponiert anzukündigen. Eine vollkommen überflüssige Anmerkung, wie sich zeigen wird.

Was will man an solch einem Nachmittag von Giacomo Puccini hören? Na klar. Und wie schön, dass es beim Frauengesang bleibt. Silberhell ertönt O mio babbino caro vom Balkon, an dessen Balustrade plötzlich Thomas erscheint. Da spürt man schon mal die Gänsehaut, die nicht an den 17 °C im Kirchenraum liegt. Williams kann mithalten. Aus der Oper Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart trägt er in einer Bearbeitung für Gitarre die Arie Deh vieni alla finestra vor. Komm ans Fenster, um diesen zarten Klang zu erleben. Grandios. Mit Là ci darem la mano bleibt es bei Don Giovanni, aber nur, um zu zeigen, wie sehr Thomas und Williams nicht nur ihre Musik, sondern auch die Akustik der Kirche im Griff haben. Hier stimmt wirklich alles bis in das kleinste Detail. Das Publikum ist zu diesem Zeitpunkt bereits hin und weg.

Stefan Schuster, James Williams, Philippa Thomas und Thomas Huy (v.l.n.r.) – Foto © O-Ton

Und dann schlägt das Duo völlig neue Töne an. Es gibt fünf überwiegend irische Songs, die die beiden sehr lyrisch darbieten. Nach den beiden Duetten Star of the County Down und Next Market Day wartet schon die nächste Überraschung. Für Williams‘ eigene Komposition Days of Old, mit der er an seine Großmutter erinnert, zieht sich Thomas zwischen die Urnen zurück, um ihn dort – was sonst? Ist doch normal, dass Opernsängerinnen Querflöte spielen – mit zarten Tönen zu unterstützen. Schließlich erklingt die Flöte auch noch von der Orgelempore. Zart umschmeicheln die Töne die Asche der Verstorbenen, und wenn im Publikum wirklich jemand sitzt, der an das ewige Leben glaubt, wird derjenige gerade innerlich ein Danke jubeln. Und Lobgesänge anstimmen, wenn Thomas und Williams von den einander gegenüberliegenden Balkonen Will ye go, lassie, go im Duett singen.

In der Pause sind Kaffee- und Teeausschank angekündigt. Beides fällt aus, weil irgendwo eine Sicherung rausgeflogen ist. Aber der Zauber, den die beiden Künstler über das Publikum ausgeschüttet haben, trägt locker über Panne und Pause hinweg. Der letzte Teil ist mit Pop überschrieben. Ein ganz böses Wort für Opernsänger, die damit eigentlich hoffnungslos unterfordert sind. Das Duo scheut nicht davor zurück. Nach Before I met you von Charlie Pride gibt es mit Baby Blue Eyes eine weitere Eigenkomposition, diesmal der Nichte gewidmet. Nach seiner Vielseitigkeit befragt, hat Williams eine einfache Antwort. „Ich suche mir gern zusätzliche Aufgaben, um die Hausarbeit zu umgehen“, sagt er. Man möchte erwidern, wie schön es ist, dass es Hausarbeit gibt. Aber da geht es schon mit Songbird von Christine McVie weiter und dem Minstrel Song, den Williams ebenfalls selbst komponiert hat – für seine Verlobte. War offenbar ein erfolgreiches Unterfangen, denn längst sind Thomas und Williams verheiratet. Ob Fields of Gold nun besser von Sting oder Volke klingt, kann man diskutieren, muss man aber nicht. Das I’ll be Home von Williams und Thomas wird der Erfolgsschlager, mit dem ein mitreißendes Finale gelingt. Da wird so kräftig und falsch mitgeklatscht, dass man sich das Grinsen nicht verkneifen kann, auch wenn man weiß, wie schwierig es für Musiker ist, gegen den falschen Rhythmus weiter richtig anzuspielen. Aber eigentlich ist man mit seinen Gedanken schon dabei, weitere Hausarbeit zu erfinden, damit die beiden endlich ein eigenes Album produzieren.

Huy hat den Balken mit dieser Aufführung ganz schön hochgelegt. Da mag man es ihm nicht verübeln, dass er am Ende wieder vom „Spendenhut“ spricht. Die Besucher, die an diesem Nachmittag gekommen sind, haben nicht den Eindruck, notleidende Künstler unterstützen zu müssen, sondern sie zahlen, was ihnen der Besuch wert ist. Und da kommt eine Menge zusammen. Also lass es uns doch auch so benennen. Zum Beispiel bei der nächsten Aufführung.

Michael S. Zerban