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Spannungsbrüche

VOGEL UND FEDER
(Claude Debussy et al.)

Besuch am
11. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Lehmbruck-Museum, Duisburg

Vittoria Quartararo liebt drei Dinge. Verkleidungen auf der Bühne, Programme zu entwickeln, die vorher auf keiner anderen Bühne zu erleben waren, und große Projekte. Deshalb hat sie auch gerade eine gute Zeit. Sie hat Komponisten getroffen, ein neues Konzept erstellt, ein Team mit guten Leuten zusammengestellt, passende Spielorte recherchiert und am vergangenen Sonntag das neue Stück im Museum Kurhaus in Kleve vorgestellt. Die nächste Station ist am heutigen Abend das Lehmbruck-Museum in Duisburg.

1964 wurde das Lehmbruck-Museum als öffentliches Museum mit Schwerpunkt auf dem Werk des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck erbaut, 1987 erweitert. Es verfügt über „eine Sammlung internationaler Skulptur der Moderne und Skulpturen, Plastik und Malerei des deutschen Expressionismus“. Manfred Lehmbruck, Sohn des Bildhauers, war für den ersten Entwurf zuständig und sorgte auch gemeinsam mit Klaus Hänsch für den Erweiterungsbau. Der Brutalismus steht hier im Vordergrund, was Quartararos Plänen sehr entgegenkommt.

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Im Untergeschoss eröffnet sich ein großer Saal, in dessen Mitte ein Glaskubus für scheinbare Transparenz sorgt. Davor sind etliche Stuhlreihen aufgebaut, die auf eine Außenwand ausgerichtet sind, vor der Treppenstufen den Aufgang zu einer Plattform bilden, die hier ganz wunderbar als Bühne dient. Auf dieser Bühne steht links ein Flügel, den die Duisburger Philharmoniker haben am Vormittag hertransportieren lassen. Mittig ist ein länglicher Tisch mit transparenter Platte und drei Stühlen aufgestellt, davor ein Beamer platziert. Die Rückwand im Sichtbeton bildet die Projektionsfläche. Neben dem technischen Equipment braucht es für diesen Abend nicht mehr.

Vogel oder Feder – mit diesem poetischen Titel hat Pianistin Quartararo den Abend bedacht. Und siehe da: Es geht um Leichtigkeit. Leichtigkeit sei kein Mangel, sondern eine Tugend, die mit Präzision, Entschlossenheit und einer aufmerksamen Wahrnehmung der Realität Hand in Hand gehe; so wird auf dem Abendzettel der Schriftsteller Italo Calvino zitiert. Festgefügt in Betonwänden will Quartararo zusammen mit ihrem Team improvisierte, projizierte Zeichnungen und Live-Klaviermusik umsetzen. Dazu hat sie Anna Lytton, Katharina Huber und Viktoriia Sviatiuk als bildende Künstlerinnen hinzugezogen. Die Ukrainerin Sviatiuk liefert Videomaterial und Zeichnungen, will sich selbst aber in der Öffentlichkeit nicht zeigen. Die psychische Belastung angesichts neuer Bombardierungen in Kiew, wo ihre Familie lebt, ist zu groß. Quartararo wird das später erzählen und beim Publikum nichts als Verständnis ernten. Lytton und Huber nehmen am Tisch Platz, um dort zu zeichnen und zu malen, was als Projektion an der Wand erscheint.

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Derweil spielt die Pianistin Stücke am Flügel, die ihr als Ausbund der Leichtigkeit erscheinen. Das Grundgerüst bilden Claude Debussys Etüden. „Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung des Wassers, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang“, sagt der Komponist, dessen Werke in der Tat gern häufiger als Grundlage für Abende mit neuer Musik gewählt werden. Und neue Musik hat Quartararo reichlich mitgebracht. Beispielsweise von Ivan Fedele, geboren 1953, dessen Stück Reflets das musikalische Erlebnis als deutsche Erstaufführung eröffnet. Oder das Stück Racconto di fieno – zu Deutsch das Märchen vom Heu – von Federico Perotti, geboren 1993, das im vergangenen Jahr erstmalig aufgeführt wurde und nun zum ersten Mal in Deutschland zu Gehör kommt. Ebenfalls eine deutsche Erstaufführung ist die Berceuse, also ein Schlaflied, des 1973 geborenen Francesco Filidei.

Im dritten Teil gibt es dann doch Musik als Erinnerung. Györgi Ligeti ist 2006 verstorben. An ihn erinnern die Etüden n.11 En Suspens. Von Elliot Carter, der 2012 starb, hat Quartararo das Stück Tritribute aus dem Jahr 2007 ausgewählt. Wer hier ernsthaft unterscheiden will, wo Debussy anfängt und aufhört, hat entweder eine Partitur zur Hand oder ist ein entschiedener Debussy-Fan. Und genau das ist die Absicht Quartararos. Ein fantastischer Klavierabend, der in der Tat leicht wie ein Vogel – oder eine Feder – beim Publikum ankommt. Dazu tragen auch die Improvisationsmalereien bei. Wenngleich sie der Leichtigkeit zuwiderlaufen, wenn sie sich im Verlauf der Stücke immer weiter verdichten. Aber immerhin lenken sie nicht vom Klavierspiel ab, sondern werden als elegante Erweiterung der Assoziationsmöglichkeiten wahrgenommen.

Quartararo liefert mit ihrer Reflexion zur Leichtigkeit, so der Untertitel, einen mehr als gelungenen Abend ab, der das Publikum zu liebevollem Applaus veranlasst. Dafür, dass es nicht einmal am Eingang des Museums einen Hinweis auf das Konzert gibt, sind doch recht viele Personen erschienen. Wie sich anschließend herausstellt, hat sich hier der Freundeskreis der Akteure eingestellt. Gereicht hätte der Abend für viele hundert Menschen. Und so ist dem Ensemble zu wünschen, dass die Akademie der Wissenschaften und der Universität Mainz ein wenig mehr Werbung betreibt, wenn Quartararo und ihr Team am kommenden Freitag in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz ein Programm präsentieren, das in dieser Kombination einmalig ist.

Michael S. Zerban