O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © André Symann

Aktuelle Aufführungen

Fantasievolles Musiktheater

REVOLUTION
(Diverse Komponisten)

Besuch am
5. April 2025
(Uraufführung)

 

Lokal Harmonie, Duisburg

Geschlossene Ladenlokale, alte Fabriken, ehemalige Feuerwachen: Wenn man sich für Kultur jenseits staatlich subventionierter Spielstätten interessiert, bekommt man einiges zu sehen. Das Lokal Harmonie im Duisburger Stadtteil Ruhrort darf man wohl, ohne jemandem zu nahe zu treten, als abgewrackt bezeichnen. Es fügt sich damit nahtlos in seine Umgebung ein. Aber der äußere Anschein trügt. Es gab viel Applaus für die Spielstätte. Dabei steht Applaus als Abkürzung für „Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten“ und ist ein Preis, der von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien verliehen wird. Gleich vier Mal wurde die Spielstätte bislang damit ausgezeichnet. Ein Blick auf die Netzseite des Lokals zeigt, dass es sich hier um einen Bienenkorb kultureller Aktivitäten handelt.

Im Lokal Harmonie tritt das Ensemble Interstellar 227 auf. 2014 haben Barbara Schachtner und Dorrit Bauerecker zueinandergefunden und probieren sich seither in unterschiedlichen Konstellationen und Klangwelten aus. Für ihre neueste Produktion rEvolution haben sie den Szenographen Norbert van Ackeren und den Kulturwissenschaftler Alexander Kleinschrodt mit ins Boot geholt, um den Begriff des Musiktheaters mit neuem Leben zu füllen.

Für die Uraufführung in Duisburg hat van Ackeren Bühnenbild und Licht geschaffen. Dabei ist er raumgreifend vorgegangen. In der Mitte des Lokals ist eine Art Käfig aufgebaut. Aus mit transparenter Folie bespannten Keilrahmen entsteht ein Raum als Begrenzung eines Podiums, das dicht mit Technik und Instrumenten gefüllt ist. Dahinter ist eine Projektionsfläche aufgehängt. Rechts im Hintergrund ist der Arbeitsplatz von Kleinschrodt eingerichtet. Des Weiteren wird im Lauf des Abends das hauseigene Piano und eine Theke zur Linken beansprucht. Vor und seitlich des musikalischen Quarantäne-Raums sind die Stühle für das Publikum aufgebaut, die heute Abend komplett besetzt sind. Kleinschrodt wird die Projektionsfläche nutzen, um mit dem Publikum zu kommunizieren. Ob interessante Zitate oder auch direkte Aufforderungen an die Besucher werden von Hand live eingegeben, inklusive zahlreicher Tippfehler, die dann sogleich korrigiert werden. Das wirkt authentisch.

Zum Prolog schreiten Schachtner und Bauerecker zum präparierten Klavier, das gleich neben dem Eingang platziert ist. Ganz in schwarzes Leder gekleidet, fallen die silberfarbenen Plateau-Stiefel ins Auge, ganz besonders, als es Schachtner unfallfrei gelingt, das Klavier damit zu erklimmen. Beide tragen Perücken, die sie später noch einmal tauschen werden, haben die Wangen schwarz eingefärbt und die Lippen neonfarben geschminkt. Hoch auf dem gelben Wagen spricht und singt Schachtner in ganz eigener Interpretation, die die eigentliche Bedeutung des Volksliedes weg von der fröhlichen Landpartie hin zum Lauf des Lebens bewegt. Bauerecker schlägt gekonnt den Bogen von der Bearbeitung der Saiten mit Schlegel und Fingern bis zur ursprünglichen Klavierfassung. Dass heute Abend alles ein wenig anders sein wird als gewohnt, ist damit geklärt.

Was folgt, als die Künstlerinnen ihr Reservat betreten und ihre Positionen besetzt haben, ist neue Musik. Sie treten den Beweis an, dass Angst oder Scheu hier nicht am Platz ist. Schnell, sehr schnell, lässt man sich als Besucher auf die Mischung aus Texten, Gesängen, Elektronik und ungewöhnlichen Instrumenten ein, lässt sich gefangen nehmen von Poesie und bislang nicht erlebten Klängen. Während Bauerecker zu Akkordeon, Spieluhren und einem außergewöhnlichen Instrument greift, bedient Schachtner die Elektronik, singt und trägt Texte vor. Das Thema Evolution tritt angesichts der künstlerischen Darbietungen in den Hintergrund. Wenn etwa Bauerecker zum Bogen greift, der an einer Metalltonne eingehakt ist und ihn scheinbar unmotiviert durch die Lüfte schwenkt, so dass man zunächst an ein Theremin unbekannter Bauart denkt – bis man die Klaviersaite entdeckt, die straff von der Tonne zur Traverse gespannt ist. An ihrem Ende ein Tonabnehmer, der für die nötige Verstärkung sorgt und von Schachtner noch bearbeitet wird, quasi also ein Duett entsteht. Das ist mindestens so aufregend wie die gesangliche Darbietung Schachtners, die When I’m Laid von Henry Purcell intoniert, während Kleinschrodt eifrig den deutschen Text eintippt.

Zwischenzeitlich treten die Damen hinter die Theke, um über die Einordnung des heutigen Abends und Metamorphosen zu philosophieren. Gleich darauf gibt es Einspielungen von Aufnahmen aus der Probenphase, die verdeutlichen, dass hinter der Aufführung intensive Recherche zur Evolution steckt, die Besucher an diesem Abend also keine willkürliche, revueartige Zusammenstellung geboten bekommen. Als es nach einer knappen wie kurzweiligen Stunde zur furiosen Entwicklung kommt, möchte man sich schon enttäuscht zurücklehnen, weil man nach dieser Aufführung nicht den üblichen kakofonischen Schluss geboten bekommen will. Aber das wollen auch Schachtner und Bauerecker nicht. Über eckige Wassermelonen wird in Zukunft noch zu reden sein, jetzt ist es ein großartiger Ausklang.

Das Publikum feiert begeistert, dass es fantasievolles, improvisationsfreudiges wie kunstvolles, dabei in keiner Weise verkrampftes Musiktheater von heute, von gerade eben jetzt, statt Opernmuseum erleben darf. Da wird in der Weiterentwicklung zukunftsfähiges Musiktheater vorstellbar.

Am 12. April kann man eine ähnliche Aufführung noch drei Mal hintereinander im Block 7, der Spielstätte von Schachtner und van Ackeren in Köln, noch einmal erleben. Ein Besuch ist absolut empfehlenswert.

Michael S. Zerban

Weitere Aufführungsbilder von André Symann sind hier zu sehen.