O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

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In des Lebens Küche

MASEL TOV! WIR GRATULIEREN!
(Mieczysław Weinberg)

Besuch am
1. November 2021
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein, Theater Duisburg

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf ein Küchenszenario im alten Stil, getoppt von einem mächtigen Kamin. Es ist der alltägliche Schauplatz eines Quartetts von skurrilen Charakteren: Köchin und Dienstmädchen, Diener und Buchvertreiber, sein Metier ambulant betreibend. Aber diese Welt tief unter der Beletage der oberen Zehntausend Ende des 19. Jahrhunderts ist viel, viel mehr als glossierte Gastronomie. Es ist das Leben selbst, das hier mit seinen Geschichten um Gelingen und Scheitern, Lieben und Leiden Gestalt gewinnt. Köstliche Gestalt für eineinhalb Stunden, die rasch verfliegen wie das Aroma des Alkohols, der reichlich fließt und das Geschehen irgendwie im Laufen hält.

Eine lyrische Altflöte hebt an, die nach einigen Passagen die Streicher aus der Reserve lockt. Und schon ist im Theater Duisburg die Verführung von Masel Tov! Wir gratulieren! lebendig. Von Mieczysław Weinbergs Konversationsstück im russischen Milieu von 1975 nach Scholem Alejchems gleichnamigem Theaterstück für vier Solisten und Orchester im Kammermusikformat, für das Henry Koch 2012 eine Orchesterfassung besorgt hat.

In der Inszenierung von Philipp Westerbarkei und der Ausstattung von Heike Scheele geht es unter und vor der riesigen Abzugshaube recht handwerklich, meistens handfest zu. Bejlja, die verwitwete Köchin, schnibbelt das Gemüse mit Herzenslust, füttert den vor sich hin bruzzelnden Kochtopf mit allem, was passt oder zu passen scheint. Fradl, das Dienstmädchen im funktionsgerechten Dress samt Häubchen, räumt auf, plättet die Wäsche und kokettiert mit dem Brautkleid, das eigentlich für die Herrschaft im oberen Stock vorgesehen ist. Dort bereitet Madame, die Hausherrin, die Verlobung ihrer Tochter vor. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich Fradl und der Diener Chaim, der ihr nachstellt, „kriegen“.

Letzter im Quartett der einfachen Leute mit den direkten Manieren ist Reb Alter mit seinem Buchladen auf dem Gepäckträger, der der Welt philosophisch beikommt, jiddisch geprägte Moritaten zum Besten gibt wie das Lied von den zehn Brüdern. Die freilich werden von Strophe zu Strophe dezimiert. Tolldreister Höhepunkt ist die Jagd der beiden jungen Leute rund um den lang gestreckten Tisch, vielleicht noch übertroffen von der Szene, in der Geschirr geworfen wird, aber mit Schmackes. Toujours l’amour, frei nach Paul Abraham. Während die da oben langsam ungeduldig werden, erkennbar durch die Rufe der Madame durch den Kamin, verwirren und entfalten sich unten die verschiedenen Liebesbande.

Weinberg, 1919 in Warschau geboren, emigriert 1939 unmittelbar nach dem Überfall von Hitler-Deutschland auf Polen nach Minsk. Seine Familie bleibt zurück und wird von den Nazis ermordet. Später weicht er über Usbekistan nach Moskau aus, wo er von Dimitri Schostakowitsch, seinem Mentor und Freund, unterstützt wird. Masel Tov!, die Vorlage seines jüdisch-ukrainischen Librettisten, vertont er während der Breschnew-Ära. Bis zur Uraufführung 1983 in Moskau vergehen acht Jahre.

Die Passagierin, Weinbergs Hauptwerk, entsteht 1968. Es beruht auf einer Geschichte der Autorin Zofia Posmysz. 18 Jahre jung, verteilt sie in Krakau Flugblätter der polnischen Widerstandsbewegung. Sie wird 1942 verhaftet und in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Die überlebt sie, auch Auschwitz. Die Handlung der Oper spielt auf einem Passagierschiff, das 1960 auf dem Atlantik mit Destination Brasilien unterwegs ist. Lisa, die ehemalige Aufseherin im KZ Auschwitz, wird mit ihrer Vergangenheit und ihrem Gerüst an Lebenslügen konfrontiert. Auslöser der Katharsis ist Marta, die Passagierin.

1953 wird Weinberg wegen eines angeblichen jüdischen Sezessionsplans für die Krim verhaftet. Schostakowitsch setzt sich für ihn ein und erreicht seine Freilassung, begünstigt durch Stalins Tod im selben Jahr. Weinberg, der Faschismus und Kommunismus überlebt, ist den jüdischen oder von jüdischer Musik inspirierten Komponisten von Werken für das Musiktheater zuzuordnen, die wie Erwin Schulhoff wegen ihres Judentums vom NS-Regime verschleppt oder wie Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása und Viktor Ullmann im Konzentrationslager ermordet werden. Krásas Kinderoper Brundibar, 1942 im KZ Theresienstadt uraufgeführt, ist vor gut zwei Jahren in der Bonner Oper zur Aufführung gelangt. Ullmanns im KZ Theresienstadt entstandene Kammeroper Der Kaiser von Atlantis ist in letzter Zeit wieder aufgeführt worden. Aktuell bringt das Theater Neustrelitz Ullmanns Werk auf die Bühne, so am 21. November.

Die Rezeptionsgeschichte von Weinbergs Opern ist selbst ein Narrativ von Vergessen und Beachtung. Ein Reflex auf die Jahrzehnte währende Marginalisierung dieser Werke, die mühselige, in jedem Fall verspätete Anerkennung im Westen Europas. Die konzertante Uraufführung der Passagierin findet 2006 in Moskau statt, 38 Jahre nach der Vollendung des Werks. Die Bregenzer Festspiele bringen die szenische Uraufführung 2010 heraus. Die deutsche Erstaufführung folgt 2013 in Karlsruhe. Lady Magnesia auf einen Text von George Bernard Shaw, komponiert 1975, wird erstmals 2012 szenisch am Theater Erfurt aufgeführt. Der Idiot nach Fjodor Dostojewskis Roman, entstanden 1987, wird erst 2013 in der vollständigen Fassung am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt.

Foto © Sandra Then

Masel Tov!, die im Oktober 2020 herausgebrachte Produktion der Rheinoper Düsseldorf, fällt in das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Hauptintention ist es, den Alltag von Juden, ihre Lebensweise, ihre Kultur in der Gegenwart zu vermitteln. Auch ihre Musikkultur, die von der italienischen Renaissance über die Weimarer Republik bis in unsere Zeit reicht. Dabei streben die Initiatoren einen Paradigmenwechsel, der aus der Opferperspektive hin zur Gegenwart führt, ohne die Kultur der Erinnerung zu vernachlässigen. Ein praktisch verschollenes Werk wie Masel Tov! zurück in den Korridor der Erinnerung zu bringen, ist ein Baustein dieser bewussten Anstrengung.

Umso schöner, wenn sie dann auch noch Spaß macht. Wie im Theater Duisburg. Die Liebenden haben sich gefunden. Die Suppe ist serviert. Allerdings überlebt Madame, die mit machtvollem Sopran ihre Bediensteten beschimpft, den ersten Löffel nicht. Ohnehin beginnt eine neue Zeit, in der, wie das Quartett versichert, nicht mehr das Streben nach Geld, vulgo: der Kapitalismus, zählt. Was an diesem Abend zählt: Kimberley Boettger-Soller als Beilja, die Fradl von Lavinia Dames, Roman Hoza als Chaim und Norbert Ernst als Reb Alter sowie die Madame der Sylvia Hamvasi aus dem Ensemble der Rheinoper meistern ihre anspruchsvollen Partien im Stil der klassischen Moderne mit jähen Tonstürzen und disruptiven Tonartwechseln bravourös.

Darin einbeziehen lassen sich die Duisburger Philharmoniker mit Ralf Lange am Pult. Ihm und dem Dutzend Musikern gelingt es, der freien Tongebilden folgenden Musik mit Klezmerkolorit, irrwitzigen Tempowechseln und lyrisch-zarten Stimmungsbildern die Weinberg-typische Architektur zu vermitteln, die auch Die Passagierin charakterisiert. Agieren die Philharmoniker gekonnt als Tutti, fällt jedem der Instrumentalisten auch eine eigene Aufgabe zu. Den Blechbläsern eh, der Flöte immer dann, wenn es gilt, den jiddischen Humor zu illustrieren. Ganz speziell noch dem Klavier, was den Bogen spannt zu weiteren verfolgten jüdischen Komponisten, Paul Abraham etwa und Kurt Weill.

Das Publikum im unterdurchschnittlich besetzten Saal bedankt sich bei allen Mitwirkenden mit freundlichem, einige Minuten durchgehaltenen Beifall. Der Oper am Rhein darf zu Masel Tov! gratuliert werden, wie immer das Stück in das Festjahr zum jüdischen Leben hineingeraten ist. Und für jetzt besonders Interessierte: Es gibt in dieser Spielzeit noch zwei Aufführungen, am 4. und am 25. November.

Ralf Siepmann