O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Kapitalismuskritische Kakofonie

ZWEITENS
(Tatraum-Projekte Schmidt)

Besuch am
21. August 2020
(Premiere am 19. August 2020)

 

Tatraum-Projekte Schmidt, Gartenbau Hilger, Düsseldorf

Wenn Theater mit Gewalt alles anders machen will, geht das selten gut. Das ist auch beim Ensemble Tatraum-Projekte Schmidt nicht anders. Da sollen für die neueste Produktion Zweitens möglichst alle Genre-Grenzen gesprengt werden. Und das fängt gleich bei der Spielstätte an. Nicht etwa im Zentrum auf einem markanten Platz oder gar in einem Theater, sondern draußen am Stadtrand, wo sich weite Grünflächen mit Wäldern abwechseln, liegt der Gartenbau Hilger. Hinter dem Anwesen, das an der Verbindungsstraße nach Duisburg liegt, hat der Gärtner in den Sommerferien sein Gewächshaus geräumt, um Proben und Aufführungen zu ermöglichen. Das nötigt Respekt ab. Denn ein Gewächshaus dieser Größenordnung „spielbereit“ zu machen, dürfte auch für Wilhelm Hilger ein erheblicher Arbeitsaufwand gewesen sein. Und so finden sich die Besucher an einem Ort wieder, der in einer idyllischen Landschaft im Sonnenuntergang verglüht und gleichzeitig futuristisch-dystopisch wirkt. Solch einen Ort muss man mal finden. Wie großartig das ist, wird sich erst im Laufe der Aufführung offenbaren.

Vorerst werden die Besucher zu einer Sitzgruppe gebeten. Schon das eine Bühne für sich. Links liegt das gläserne Treibhaus, hinter dem weiten Feld der Waldesrand, über dem links tiefliegend die Sonne vor einer mächtigen Wolkengruppe langsam sinkt. Auf dem Feld tummeln sich einige Personen mit Plastikumhängen, kaum erkennbar im Gegenlicht, aber allemal interessanter als das, was sich bei der „Diskussionsrunde“ abspielt. Nachdem Hanna Busch die Besucher über die Verhaltensregeln während der Aufführung informiert hat, begrüßt Regisseur Michael Schmidt seinen Gast Jochen Schwill, einen Energiemakler aus Köln, mit dem er erst mal über seine Firma redet. Eine nette Werbeveranstaltung, bis der erste Besucher unterbricht und etwas über Kernfusion wissen will. Was auf dem Konzeptpapier vermutlich als gute Idee durchging, entpuppt sich vor Ort als langweilige, zeitraubende Stammtischplauderei. Schön, dass die Darsteller derweil für Abwechslung sorgen. Nach einer halben Stunde wissen alle, dass erneuerbare Energien gut für uns sind, noch nicht alle Fragen dazu gelöst sind, aber wir in den Anstrengungen nicht nachlassen dürfen.

Foto © Tatraum-Projekte Schmidt

Grundsätzlich mag das zum Thema des Abends passen. Denn Schmidt will sich mit gegenwärtigen Fragen in dem Stück auseinandersetzen. Kann das derzeitige Wirtschafts- und Regierungssystem weiter funktionieren oder muss es – immer unter dem großen Dach der Nachhaltigkeit – geändert werden, und wie kann das gehen? Wie es sich für einen guten Regisseur gehört, belässt er es bei den Fragestellungen und deren kunstgerechter Umsetzung.

Die Besucher werden in das Gewächshaus begleitet. Es ist dreiteilig aufgebaut, das Publikum darf sich in bestimmten Bereichen des mittleren „Saales“ versammeln. Schmidt beweist einen guten Blick für Räume, wenn er hier immer wieder neue Bühnen aufmacht. Das ermöglicht Perspektiv- und Szenenwechsel. In der ersten Szene sind die Darsteller im hintersten Saal zu sehen, wo sie in schwarzer Unterwäsche Sport treiben und so einen Einblick in die heutige Leistungsgesellschaft bieten. Dazu gibt es Geigenmusik von Maja Prill und gurgelnde Klänge, die den Hörern die Assoziation eines herabziehenden Wasserstrudels vermitteln. In der nächsten Szene begeben sich die Darsteller an die gläserne Außenfront des mittleren Saales, um im vielstimmigen Sprechchor ein Loblied auf den Kapitalismus zu singen. Hier gibt es Plastikumhänge und neongrüne Perücken, in denen sich die Darsteller abschließend duschen, ehe sie in den mittleren Saal kommen. Hier werden die Plastikumhänge wieder abgelegt. Die Darsteller bewegen sich der Bahnen entlang, in denen ansonsten die Blumentische stehen. Alsbald entwickelt sich ein Dialog über Änderungsmöglichkeiten und Zuständigkeiten. Wie kann man als einzelner Bürger Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft nehmen? Soll man das überhaupt? Ist es nicht vielmehr Aufgabe der Politik? Hat die versagt? Und so weiter und so fort. Zwischendurch erinnern zahlreiche Stopp-Rufe, dass es nicht so weitergehen kann, wie es derzeit läuft.

Unter der Kakofonie der Dialoge und Monologe, in der die Vielfalt der Argumente aufscheint, kommt das tänzerische Element häufig sehr kurz. Es ist schwierig, die verschiedenen Ebenen zu rezipieren, geschweige denn, sie alle wahrzunehmen. Höchste Konzentration ist gefordert, die Reflektion der Beispiele gelingt kaum. Was hat das begrenzte Wachstum eines Kaninchens mit dem der Wirtschaft zu tun? Selbst dann, wenn sogar bis in wirtschaftswissenschaftliche Kreise hie und da die Erkenntnis durchsickert, dass wirtschaftliches Wachstum weder unendlich noch so erstrebenswert ist, wie von den Betriebs- und Volkswirten seit Jahrzehnten verherrlicht. Solche Beispiele gibt es einige, während im Hintergrund ein Chor „We need a crisis“ – Wir brauchen eine Krise – skandiert. Wenn es das Anliegen Schmidts ist, die inzwischen vollkommen unübersichtliche Vielzahl von Argumenten der vielen Seiten aufzuzeigen, gelingt ihm das. Da weicht dann allerdings die Utopie der Dystopie. Während die Figuren der Darsteller im zunehmenden Grau der hereinbrechenden Nacht verschwimmen und nur von wenigen, im Raum verteilten Neonröhren beleuchtet werden, sorgt Yoann Trellu mit Beamern aus dem dritten Saal, dass die Glaswand zwischen den Sälen farbig beleuchtet wird. Die eigentlichen Projektionen – Wortansammlungen, die den Wandel beschwören – werden erst beim Besuch des dritten Saals sichtbar.

Foto © Tatraum-Projekte Schmidt

Dahin ziehen sich die Darsteller zurück, nachdem ihre Kakofonie in einem Summchor verendet ist, um sich in Kokons aus Plastik zu verkriechen. Nicht ohne zuvor noch beteuert zu haben: „Ich will auch meinen Teil vom Kuchen!“. Tja, so ist das mit der gesellschaftlichen Verantwortung. Zuerst komme ich selbst. „Wir brauchen einen neuen Wirtschaftsmotor!“, durchbricht eine Darstellerin das Ego-Gejammer. Und der kann sicher nicht Kapitalismus heißen. Schon gar nicht einen Kapitalismus meinen, der mit einem neoliberalen Weltbild einhergeht. Da bleibt doch nur noch der Schutz im eigenen Zuhause. Um wieder groß werden zu können – die Darsteller richten sich auf, bleiben von den Resten ihrer Plastikfolien behängt – und zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Dazu verlassen die Darsteller nacheinander zum musikalischen Loop die Halle. Auf dem Feld werfen sie die schützende Hülle ab und verschwinden in der Nacht. Ein letztes, imposantes Bild, das kein echtes Ende hergibt. Und so stehen die Besucher noch eine ganze Weile einigermaßen hilflos vor dem weitgeöffneten Tor des Glashauses, aus dem die Gesellschaft gerade ausgebrochen ist. Über den Sinn eines offenen Endes braucht man nicht zu streiten, da hat jeder seine eigene Meinung. Den Zuschauern allerdings die Möglichkeit zu nehmen, sich applaudierend bei den Darstellern zu bedanken, ist und bleibt unfair.

Im letzten Teil des Abends gibt es im Empfangsbereich, also dem ersten Teil des Gewächshauses, eine Video-Installation, die Darsteller in verschiedenen Konstellationen in der Innenstadt von Düsseldorf zeigt. Konzeptionell war das wohl so gedacht, dass hier Darsteller, Leitungsteam und Besucher wieder zusammentreffen, um ins Gespräch zu kommen. Aber auch hier überholt die Wirklichkeit das Gutgemeinte. Nach gut anderthalb Stunden intensiven Erlebens lässt die Aufmerksamkeit nach, auch wenn das Publikum sich nur zögerlich verabschiedet. Aber zu Diskussionen ist jetzt niemand mehr aufgelegt.

Insgesamt ein künstlerisch sehr ambitioniertes Stück in einer eindrucksvollen Spielstätte, wie man es in den letzten Monaten nur sehr selten zu sehen bekam. Wieder einmal abseits inzwischen hoch subventionierter Produktionshäuser hat die so genannte Freie Szene gezeigt, dass die wichtigen künstlerischen Impulse nicht aus den Theaterhäusern kamen. Auch darüber muss man mal gründlich nachdenken.

Michael S. Zerban