O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ulrike Schumann

Aktuelle Aufführungen

Frisches Wasser als Musik

WIE DER HIRSCH SCHREIT …
(Felix Mendelssohn Bartholdy et al.)

Besuch am
24. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Neanderkirche, Düsseldorf

Die schönen Talente, die Wolfgang Abendroth auszeichnen, sind den Musikfreunden Düsseldorfs natürlich nicht unbekannt. Kommt die Rede darauf, meint man an erster Stelle, ganz selbstredend, den Organisten, verweist gleich anschließend auf den spiritus rector diverser Sonderprojekte und der ihnen angeschlossenen, diese überhaupt erst ermöglichenden Chorformationen, die in der Summe das Musikleben der Citykirche, über die Landeshauptstadt hinaus, so kräftig leuchten lassen. So weit, so geläufig. Eine weitere Begabung, von der bis dato vergleichsweise wenig gesprochen wird, hat das zurück­liegende Passionskonzert mit dem Düsseldorfer Kammerchor offengelegt. Eine Qualifikation, die, wenn nicht alles täuscht, verantwortet mithilft, dass Johanneskirchen-Konzerte unter Abendroth-Leitung diese mitreißende Frische ausstrahlen. Beschrieben steht sie in keinem Dirigierhand­buch, weil sie allem eigentlichen Dirigieren vorausgeht: die Begabung, sich Freunde zu machen unter Musikern. Namentlich unter solchen, die am Anfang ihrer Karriere stehen und denen das Brennen für die Kunst noch ganz selbstverständlich ist. Das macht den Ton.

Sophie Hagenmüller – Foto © Ulrike Schumann

Und es macht den Unterschied beim Konzert zur Passion in der Neanderkirche, das die besagte Frische praktischerweise gleich im Titel führt. Psalm 42, Vers 2: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir.“ Mendels­sohns berühmte Psalmvertonung op. 42 in einer Bearbeitung für Kammerorchester hat Abendroth fürs Finale vorgesehen. Ihr zur Seite hat er ein anderes Meisterwerk gestellt, Jean-Baptiste Lullys Miserere Mei Deus aus dem Jahr 1663. Davor, dazwischen, Schmaleres, nur scheinbar weniger Gewichtigeres. Arvo Pärt: Da Pacem Domine. Francis Poulenc: Quartre motets pour un temps de pénitence, Vier Motetten für eine Bußzeit.

Abendroth will das vokal-konzertante Arrangement als „Einheit“ verstanden wissen, musiziert es ohne Unterbrechung, was der Konzentration auf beiden Seiten ausgesprochen zugutekommt, beim Publikum wie bei den Ausführenden. Halbkreisartig die Aufstellung. Außen der Kammerchor, den Abendroth vor 20 Jahren übernommen hat. Zwei Dutzend Choristen mit beträchtlichem Stimmpotenzial, auch im Solistischen. Dazu schließlich die belebenden Zusatz-Elemente: Zwei Ensembles, die erst in den letzten Jahren an den Start gegangen sind, und für die sich Wolfgang Abendroth gar nicht weit im Land umschauen musste.

Für den Orchesterpart ist er in Essen fündig geworden. Dort residiert seit ein paar Jahren ein Ensemble, das der deutsch-türkische Geiger Önder Baloglu, Konzertmeister der Duisburger Philharmoniker, aus einer Streich­quar­tettformation entwickelt hat. Les Essences steht für 18 Musiker aus 15 Ländern und für einen Anspruch. So wie Essence das Wesen ist, was die Natur der Dinge ausmacht, will man essentiell, will man wesentlich sein, einen konzentrierten Vortrag bieten. Man spürt das im Übrigen sofort. Haltung, Bogenführung, dazu die erkennbare Stimmführungsbereitschaft an den ersten Pulten um Baloglu. An der Seite dieses quellfrisch aufspielenden Orchesters musizieren fünf Mitglieder eines 2019 gegründeten Vokal-Oktetts, das unter dem Namen Ensemble Rheinstimmen mittlerweile eine künstlerische Residenz an der Johanneskirche wahrnimmt: Sophie Julia Hagenmüller, Sopran, Eva Marti, Mezzo, die beiden strahlend-schönen Tenöre Gabriel Sin und Leonhard Reso sowie Bass George Clark.

Les Essences, Ensemble Rheinstimmen und Kammerchor Düsseldorf – Foto © Ulrike Schumann

Die Dramaturgie des Abends denkbar glücklich. Indem Abendroth mit Poulenc einsetzen lässt, bietet sich ihm die Möglichkeit, die ausgesungenen Schlusszeilen von Tristis anima mea/Meine Seele ist betrübt übergangslos in den Orchester-Auftakt der Lully-Motette münden zu lassen. Toller Effekt! Und es bleibt nicht dabei. Die Klangsprache, die kompositorische Durcharbeitung der Lully-Mottete erweist sich, einmal mehr, als von größtem Reichtum. Anders als der etwas einfarbige Poulenc, der auch erst in späten Jahren zum Katholizismus gekommen war, greift Lully auf die doppelchörigen italienischen Vorbilder seiner Heimat zurück und wirft seine ganze Kompositionswissenschaft hinterher. Insbesondere die wechselnden Kombinationen zwischen Solisten und Chor sind voller Schwung. Schon der Eindruck bei der Uraufführung war grandios. Hinterher soll der König seinen valet de chambre, seinen Kammerdiener, gefragt haben, welche der gebotenen Musiken ihm am besten gefallen habe. Darauf dieser: „Sire, die Vielfalt der Bewegungen im Miserere hat mir imponiert!“ Abendroth wählt, wie eigentlich immer, bewegte Tempi, was das Tänzerische dieser Trauermusik hervorkehrt. Eine Musik, die hierzulande eher selten geboten wird, die der eine odere andere kurioserweise gar nicht so sehr vom Konzert, sondern vom Kino kennt, spielt sie doch in Roberto Rosselinis La prise de pouvoir par Louis XIV eine prominente Rolle.

Nach dem kleinen Intermezzo mit Pärts Da-Pacem-Motette, die er im Auftrag Jordi Savalls für das Gedenken an die Terroropfer von Madrid 2004 geschrieben hat, geht es ebenso übergangslos in den Eingangschor von Mendelssohns Opus 42. Bewegend, wie Kammerchoristen, wie die bläsererweiterten Orchestristen von Les Essences die dunklen Farben des ersten Coro dieser Psalmvertonung in den Raum stellen. Der von 15 auf fünf Bläser reduzierte, ursprünglich sinfonische Bläsersatz wahrt den Charakter. Die von Abendroth gewählte Kammermusikfassung funktioniert. Mit Spannung erwartet dann das berühmte Quintett Der Herr hat des Tages verheißen, was Mendelssohn für Sopran und Männerquartett, zwei Tenöre, zwei Bässe, ausgesetzt hat. Für die Neanderkirchen-Ausführung wechselt einer der Kammerchor-Herren nach vorn in die Solistenposition. Wer? – Das ins Programmheft hineinzuschreiben, hat die Regie im Vorfeld dieser, gewiss kräftezehrenden, andererseits aber doch überaus gelungenen Aufführung, leider versäumt. – Bliebe noch der Nachtrag auf einen Mendelssohn-Kommentar. „Geht das Quintetto, geht alles“, hat er gesagt. In Düsseldorf, wo sich Mendelssohn ja selber einmal so prächtig gefallen hat, geht es auch. Sehr gut sogar. Der Meister hätte seine Freude gehabt.

Georg Beck