O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nathan Ishar

Aktuelle Aufführungen

Die Kraft des Wassers

WETLAND
(Katharina Senzenberger)

Besuch am
11. Mai 2023
(Premiere)

 

Tanz NRW im Tanzhaus NRW, Großer Saal

Die so genannte Freie Szene hat ein Problem. Stücke werden für eine Aufführung oder Aufführungsserie von zwei, drei Terminen gefördert. Das führt in der Praxis dazu, dass die Künstler nicht großartig lange an einem Werk festhalten, sondern möglichst rasch Neues produzieren, was dann wieder förderungswürdig ist. Es gibt Ausnahmen wie Maura Morales, deren Stücke inzwischen landauf und landab eingeladen werden. Und es gibt das Festival Tanz NRW. Alle zwei Jahre werden hier Tanz-Produktionen in neun Städte in Nordrhein-Westfalen eingeladen, um sie einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. In diesem Jahr zeigt Tanz NRW vom 4. bis zum 14. Mai 22 Produktionen, darunter drei Uraufführungen, und 20 Produktionen im Internet auf einer „digitalen Bühne“. Stolz berichten die Veranstalter von 200 Bewerbungen allein für das Bühnenprogramm. Das suggeriert, dass hier nur die Besten zu sehen sein werden, abgesehen davon, dass man auch auf die unterschiedlichsten Situationen eingeht wie Inklusion, Nachwuchsförderung und so weiter. De fakto heißt es bei einem völlig intransparenten Auswahlverfahren, dass der Bedarf wesentlich höher liegt. Von Glück und vermutlich guten Beziehungen reden kann also jeder Künstler, der hier noch einmal eine Chance bekommt.

Foto © Nathan Ishar

Eine derjenigen, die Eingang in das Programm gefunden haben, ist Katharina Senzenberger. 2021 schloss sie das Studium für zeitgenössischen Tanz in Köln ab. Im Herbst desselben Jahres zeigte sie am Tanzhaus NRW in Düsseldorf mit Constanze Werner das Duo Solid Gold, damals noch im Badeanzug. Der Clou war, den zeitgenössischen Tanz auf eine gewässerte Plastikfolie zu verlegen. Senzenberger entwickelte das Thema weiter, und so wurde Anfang November 2022 das Stück Wetland im Tanzhaus NRW uraufgeführt. Nun darf sie es im Rahmen von Tanz NRW erneut im großen Saal des Hauses zeigen.

Es ist keine Neuigkeit, dass Choreografen respektive Compagnien beim theoretischen Überbau ihrer Werke gern einmal über das Ziel hinausschießen. Möglicherweise herrscht hier der Glaube vor, leichter an die Bewilligung von Fördergeldern zu kommen, wenn „aktuelle Themen“ in der Beschreibung des Tanzgeschehens aufgegriffen werden. Dabei spielt das Publikumsinteresse offenbar eine untergeordnete Rolle. Senzenberger ist mit Wetland ein gutes Beispiel dafür. „Hier verwandelt Wasser die Bühne in einen feuchtqueeren Ort“, heißt es in der Stückbeschreibung. Für große Teile der Bevölkerung ist das Kunstwort queer inzwischen ein rotes Tuch. Bekannt ist die zunehmende Ablehnung gegenüber Minderheiten, die längst akzeptiert waren, der Begriff des Aktivisten wird zum Schimpfwort. „Die Choreografie lässt virtuose Slidingtechnik mit queerer Perspektive, einen Pleasure zelebrierenden Ansatz mit popkulturellen Einflüssen ineinanderfließen“, heißt es weiter in der Beschreibung. Da geht die Lust gegen null.

Foto © Nathan Ishar

Im Düsseldorfer Tanzhaus NRW ist der große Saal gut besucht. Die Alten sind zuhause geblieben. Die Bühne ist mit einer weißen Folie ausgelegt. Um sie herum sind Scheinwerfer aufgestellt. Die Raffinesse der Bühne, die sich Kristi Knak Tschaikowskaja ausgedacht und später Renate Mihatsch überarbeitet hat, erschließt sich erst später. Vorerst kommen die fünf Akteure über die Seitentreppen der Tribüne herunter, bekleidet mit Unterhosen, weißen Söckchen und Turnschuhen. Für die Komposition der Musik, ihre Zusammenstellung und den richtigen Klang sorgt Isabella Forster. Katharina Senzenberger, Stella Covi, Ibai Jimenez Gorostizu-Orkaiztegi, Vivien Kovarbasic und Constanze Werner bringen sich in Position, zeigen abwechselnd kämpferische und laszive Posen, ehe den Zuschauern nach etwa fünf Minuten ausreichend Gelegenheit gegeben wird, die nahezu unbekleideten Körper im Stillstand zu betrachten. Im grellen Licht, für das ebenfalls Senzenberger verantwortlich zeichnet, fällt lediglich auf, dass alle fünf unrasiert sind. Damit dürften sie, glaubt man einer Umfrage, tatsächlich zu einer Minderheit gehören.

Orgelklänge branden auf, Senzenberger und Covi stellen sich in die Bühnenmitte, während ihre Mitstreiter am hochgestellten Rand Platz nehmen. Erst jetzt fällt der Ring über der Bühne auf, aus dem nun Wasser sprüht. Lachen bilden sich auf der weißen Folie. Die beiden Frauen imitieren derweil in bester Hollywood-Manier Kuss und Umarmung. Das ist ebenso erotisch wie in den besagten Filmen. Und dann kann der eigentliche Spaß beginnen. Dass es tatsächlich Freude bereitet, auf einer gewässerten Folie herumzurutschen, belegen zahlreiche Videos im Internet. Die Akteure stoßen sich vom „Beckenrand“ ab, fangen gegenseitig Schwung ab oder verleihen sich zusätzlichen Schub, wenn sie über die Fläche schießen, sich dabei windend und kugelnd. Die gute Laune zu den rhythmischen Klängen der Musik überträgt sich ungebremst auf das Publikum. Und wenn die fast nackten Körper als Kette über die nasse Fläche rutschen, kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr. In der etwas mehr als einstündigen Schau wiederholt sich vieles. Da ist die Vermutung durchaus berechtigt, es könne noch mehr Bewegungsmaterial geben. Vorerst reicht das Gezeigte, das manches physikalische Gesetz außer Kraft zu setzen scheint, das Publikum zu entzücken. Eine wunderbare tänzerische Idee, in der noch viel Potenzial steckt. Auf die künftigen Arbeiten von Senzenberger wird man achten müssen.

Michael S. Zerban