O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Die Bilder geben lediglich einen Eindruck von der Aufführung wieder - Foto © Sophia Garcia

Aktuelle Aufführungen

Das ganz große Besteck

WAKATT
(Serge Aimé Coulibaly)

Besuch am
17. September 2020
(Uraufführung)

 

Tanzhaus NRW, Düsseldorf, Großer Saal

Stefanie Carp musste ihre Intendanz der Ruhrtriennale verfrüht beenden, weil der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr ohne ihr Wissen beschloss, das Festival vorzeitig wegen der Corona-Krise zu beenden. Jeder Versuch von ihrer Seite, gegen den Beschluss anzugehen, scheiterte – und so ging Carp mit dem Versprechen „Ich werde versuchen, für einige Projekte neue Aufführungsorte in Nordrhein-Westfalen zu finden, um so ein paar der Produktionen dennoch zu zeigen“. Hier ist nicht der Ort, die Geschehnisse der Ruhrtriennale aufzuarbeiten, dazu sind sie eigentlich auch zu unappetitlich. Aber an das Versprechen von Carp zu erinnern, ist legitim. Löst sie es doch zumindest in einem Fall heute ein.

Wakatt, das neue Werk von Serge Aimé Coulibaly, war ursprünglich zur Uraufführung in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle in Bochum geplant. Nachdem das Tanzhaus NRW sich Ende Mai der „unheiligen Allianz“ – O-Ton kommentierte – von Kulturinstitutionen in Düsseldorf angeschlossen hatte, die beschloss, die Aufführungserlaubnis zu ignorieren und stattdessen die Sommerferien zu verlängern, meldet es sich heute mit eben dieser Choreografie in die Öffentlichkeit zurück. Ebenso wie der Intendant der Deutschen Oper am Rhein, Christoph Meyer, erwähnt Intendantin Bettina Masuch den Vorfall mit keinem Wort, verkneift sich aber zumindest die Bemerkung ihres Kollegen aus der Oper, sich so zu freuen, dass man nach sechs Monaten endlich wieder auftreten dürfe. Stattdessen bedankt sie sich in ihrem Vorwort zur Aufführung bei der ebenfalls anwesenden Stefanie Carp, dass sie diesen Abend ermöglicht habe.

Foto © Andrea Messana

Und sieht man vielleicht von Stephanie Thierschs Bilderschlachten ab, die ja ihre deutsche Erstaufführung in Bonn erlebten, hat das Tanzhaus tatsächlich lange keine so fulminante Uraufführung mehr gesehen. Denn Coulibaly fährt das ganz große Besteck auf. In seinem 70-minütigen Werk beschäftigt er sich mit der „omnipräsenten Furcht vor dem Anderen“ im Umfeld des Individuums und ruft zum Widerstand gegen manipulative, rechtsextreme Machthaber auf, die sich gerade wie Krebs auf dem Erdball auszubreiten scheinen. Das klingt nach großer Geste, ist aber bei genauerem Hinsehen nicht einfach so hinnehmbar. Gibt es diese Furcht tatsächlich, oder ist sie eher mediengemacht? Erschwert wird der Diskurs, indem Coulibaly versucht, die persönlichen Erfahrungen der Corona-Krise mit zu verarbeiten. Wo genau stecken die Ängste? In Deutschland zumindest scheint es so zu sein, dass sehr viel mehr Menschen der Begegnung mit dem „Anderen“, also beispielsweise dem Flüchtling, sehr offen und rückhaltlos begegnen. Die Ängste, die da von Boulevard-Zeitungen geschürt werden, treffen offenbar nur sehr dünne Bevölkerungsschichten. In allen anderen Umfeldern versuchen die Menschen schlicht, sich mit den zugereisten Mitmenschen zu arrangieren und freuen sich, wenn es in der Nachbarschaft funktioniert. Auch in Brüssel, der Arbeitsbasis des Choreografen, ist das nicht viel anders. Und was ist mit der Angst vor dem Corona-Virus? Die Ächtung anderer Meinungen als die der Regierung erstickt jede tatsächliche Auseinandersetzung. Das ist also nicht die Angst vor dem anderen, sondern inzwischen die Sprachlosigkeit und die Angst vor dem, was an Panikmache veranstaltet wird. Und ist nicht die Angst vor den rechtsextremen Machthabern in der Welt, die Medien nennen sie rechtspopulistisch, wie harmlos das das dann klingt, die kleingeistige Furcht vor einem winzig kleinen historischen Ausschnitt? Wäre es nicht denkbar, dass die Erfahrungen mit solchen falschen Propheten sehr schnell wieder zu einer Umkehr und Korrektur wie derzeit anscheinend in Belarus führen? Der gedankliche Überbau von Coulibaly ist also ausgesprochen diskussionswürdig. Bei seiner choreografischen Umsetzung gewinnen Bilder und Musik die Oberhand – und danach müsste die Diskussion noch einmal neu geführt werden.

Mit der Bühne – und den Kostümen, die sie bewusst multikulturell und auch ein bisschen sexy anlegt – hat Catherine Cosme einen großen Wurf gelandet. Im Hintergrund der Bühne ist eine zweite Ebene mit einem ausgeschnittenen Halbrund in der Mitte eingezogen. Hier gelingen Giacinto Caponio die größten lichtdesignerischen Effekte, der sich ansonsten eher mit großem Aplomb zurückhält. Auf der rechten Seite ist ein großer, goldfarbener Felsen, Königsthron oder Fluchtpunkt aufgestellt. Links hat Magic Malik, das Musik-Trio mit seinen Instrumenten Aufstellung gefunden. Der Boden bildet das visuell interessanteste Element. Er ist vollständig bedeckt von einer Flut von Schnipseln aus einer hauchdünnen, schwarzen, nicht brennbaren Plastikfolie. Das sieht aus wie totes Laub, Lava-Asche oder Staub einer längst gestorbenen Welt. Ein großartiger Einfall, der zudem tänzerisch viele Möglichkeiten eröffnet, weil die Schnipsel Geschmeidigkeit in der Bewegung erlauben.

Aus diesem Boden erheben sich zunächst zwei Tänzer, die sich eindrucksvoll in epileptischen Anfällen ergehen. Coulibaly sieht darin wohl den inneren Kommunikationskonflikt einer Person, die sich nicht mehr mit der Außenwelt auseinandersetzen kann. Daraus entspinnt sich eine mächtige Tanzhandlung, in der sich Miteinander und Gegeneinander die Waage halten. Allmählich gerät das Ganze scheinbar außer Kontrolle. Ekstatisch oder orgiastisch sind die Worte, die einem in der weiteren Entwicklung einfallen. Am Ende sind Tote zu beklagen, die kurzerhand wieder zum Leben erweckt werden, quasi als zweite Chance der Menschheit. Dass danach die Versuche dargestellt werden, sich einander anzunähern, verleiht so etwas wie Zuversicht. Festlegen möchte sich der Choreograf darauf nicht.

Unterstrichen wird das Epos, das von zehn Tänzern, darunter vier Frauen, dargestellt wird, von den Musikern mit einem Ausflug in den Free Jazz. Jean-Luc Lehr am Bass und Maxime Zampiere am Schlagwerk unterstützen den Querflötisten Magic Malik, der das Trio zu immer neuen Höchstleistungen antreibt, um es von jetzt auf gleich auch einfach mal schweigen zu lassen.

Das Faso Danse Théâtre liefert eine wunderbare Arbeit ab. Das Publikum im einigermaßen gut besuchten Großen Saal weiß das zu würdigen und applaudiert über die Maße langanhaltend. Der Wiedereinstieg des Tanzhauses scheint geglückt. Dass Bettina Masuch die Premierenfeier ausfallen lässt, aber alkoholische Getränke am Ausgang verspricht, führt dazu, dass die Besucher sich vor dem Tanzhaus versammeln und dort noch eine großartige Arbeit feiern, die eigentlich längst hätte gezeigt werden können. Jetzt sind noch zwei Vorstellungen an den aufeinanderfolgenden Tagen vorgesehen, ehe das Stück auf wohlverdiente Tournee geht.

Michael S. Zerban